Plötzlich löste sich ein Schuss
Am 2. Juni 1967 wird der Student Benno Ohnesorg von einem Polizisten erschossen. In der Folge radikalisiert sich die Studentenbewegung.
Noch nie zuvor hatte Benno Ohnesorg an einer Demonstration teilgenommen. Nun, im Frühsommer 1967, erfasste den 26-jährigen Romanistikstudenten wie tausende andere junge Menschen auch die Empörung über den Besuch von Schah Reza Pahlevi und Schahbanu Farah Diba in der Bundesrepublik Deutschland. Die in den Illustrierten abgedruckten Kitschbilder standen im diametralen Gegensatz zu den von Menschenrechtsorganisationen geschilderten Verhältnissen, die von Polizeiterror, Folter, Massakern durch die Militärs und Ausbeutung der Kleinbauern geprägt waren. Den pompösen Empfang für den selbstherrlichen Herrscher empfanden viele Studenten als unangemessen, unangebracht und unmoralisch. In den wirtschaftlichen und geostrategischen Interessen, die die eigene Regierung in Persien verfolgte, sahen sie dafür keine Rechtfertigung.
Als am Abend des 2. Juni 1967 in Berlin das Kaiserpaar im Mercedes 600 vor das Portal der Deutschen Oper rollte, skandierten dort etwa 3000 Menschen „Mörder, Mörder!“ und „Schah, Schah, Scharlatan!“ Tomaten, faule Eier und Mehltüten wurden in Richtung der Staatsgäste geworfen, zerplatzten aber, ohne das Ziel erreicht zu haben, auf der Fahrbahn. Nachdem Schah und Schahbanu unversehrt in die Oper gelangt waren, begannen die Demonstranten abzuziehen.
Doch plötzlich fuhren im Hintergrund vierzehn Rettungswagen auf. Vor den Demonstranten bezogen starke Polizeieinheiten Stellung. Während drinnen der deutsche Bundespräsident und seine Gäste Mozarts „Zauberflöte“ lauschten, brach vor der Oper die Hölle los. Wie ein Keil stießen Polizisten mit geschwungenen Knüppeln in die Menge. Viele Demonstranten wurden von den Schlägen niedergestreckt, lagen blutend am Boden. Die Krankenwagen füllten sich binnen weniger Minuten. Berlins Polizeipräsident Erich Duensing nannte das „Leberwursttaktik“: „Nehmen wir die Demonstranten als Leberwurst, dann müssen wir in die Mitte hineinstechen, damit sie an den Enden auseinanderplatzt.“ In einer zweiten Etappe formierten sich Kriminalbeamte in Zivil zu Greiftrupps und begannen, vermeintliche Rädelsführer dingfest zu machen. Die Demonstranten stieben auseinander, in dem Getümmel verlor Ohnesorg seine schwangere Gattin aus den Augen. Als sie ihn ein paar Stunden später wieder sieht, ist er tot. Erschossen von einem Kriminalbeamten.
Am Grundstück Krumme Straße 66/67 war die Straßenschlacht eskaliert. Kriminalbeamte glaubten in Ohnesorg einen Rädelsführer erkannt zu haben. Dem Pazifisten und aktiven Mitglied der evangelischen Studentengemeinde waren möglicherweise sein Schnurrbart, sein rotes Hemd und die Sandalen zum Verhängnis geworden. Er wurde von zwei „Greifern“ zu Boden gerissen, uniformierte Beamte leisteten ihren Kollegen Unterstützung. Demonstranten liefen dazu, umringten die Polizisten. Es kam zum Handgemenge. Ohnesorg unternahm einen erfolglosen Fluchtversuch, dann brach er unter Schlägen und Tritten zusammen. Elf große Blutergüsse und eine Fettembolie werden die Ärzte bei der Obduktion feststellen. Soeben hatte ihm ein Polizist noch einmal mit dem Knüppel in die Leber geschlagen.
In diesem Moment war der 40-jährige Kriminalobermeister Karl-Heinz Kurras zur Stelle. Er war zu diesem Zeitpunkt bereits dreizehn Stunden im Dienst. Heimatvertriebener, im Krieg mehrmals verwundet, drei Jahre in sowjetischer Gefangenschaft gewesen. Er galt als korrekt und war einer der besten Schützen der Berliner Polizei. In der Hand hielt er eine entsicherte Pistole vom Kaliber 7,65 Millimeter. Die Mündung, so glaubte ein Zeuge zu erkennen, war kaum einen halben Meter von Ohnesorgs Kopf entfernt. Plötzlich löste sich ein Schuss. Das Projektil drang hinter dem rechten Ohr ins Gehirn.
Zunächst versuchten die Behörden, den Vorfall zu vertuschen. Es hieß, Ohnesorg sei einem Schädelbruch erlegen. Dann, ein Querschläger habe ihn getroffen, zuletzt, Kurras habe ihn in Notwehr erschossen. Das Gericht wird der letzten Version Glauben schenken und Kurras freisprechen. Nicht zuletzt gestützt auf das Gutachten des Polizeiarztes, der in der Tatnacht an Kurras’ Körper Blutergüsse, die von Stock- und Handkantenschlägen herrührten, festgestellt hatte. Das Skandalurteil beförderte Ohnesorg endgültig zum Märtyrer der Studentenbewegung. Alfred Hrdlicka schuf das Gedenkrelief „Der Tod des Demonstranten“. Nicht mehr lange, und es formiert sich unter der Bezeichnung „Bewegung 2. Juni“ eine terroristische Vereinigung.
In Berlin forderten Studenten einen Tag nach Ohnesorgs Tod den Regierenden Bürgermeister Heinrich Albertz zum Rücktritt auf. Darunter eine junge, schlanke Frau mit langen blonden Haaren, die zornig meinte: „Gewalt kann nur mit Gewalt beantwortet werden! Dies ist die Generation von Auschwitz – mit denen kann man nicht argumentieren!“ Zu diesem Zeitpunkt ahnte niemand, dass Gudrun Ensslin – gerade drei Wochen zuvor Mutter geworden - diese Worte bis zur letzten Konsequenz wahr machen würde. Sie selbst wohl auch nicht: Im Semesterbericht schrieb die Stipendiatin der „Studienstiftung des deutschen Volkes“, dass sie hoffe, ihre Doktorarbeit im nächsten Jahr zu beenden. Im September 1967 trat Albertz als Bürgermeister zurück.
Die Ereignisse vom 2. Juni 1967 hatten vor allem die Politisierung der Studentenschaft weit über das linke Spektrum hinaus bewirkt. Der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) konnte sich der vielen Beitrittserklärungen kaum erwehren. Die Sprache in der Auseinandersetzung wurde härter, die Wahl der Mittel ebenso. Die Provokationen und Politclownerien der Kommune 1 um Dieter Kunzelmann, Rainer Langhans und dem APO-Luder Uschi Obermaier, denen der Orgasmus wichtiger als der Vietnamkrieg war, wurde ein Jahr später von spektakuläreren Aktionen abgelöst. In der Nacht vom 2. auf den 3. April 1968 entzündeten sich Brandsätze in zwei Frankfurter Kaufhäusern und richteten einen Sachschaden von knapp 700.000 Mark an. Kurze Zeit später wurden vier Täter gefasst - außer einem Studenten und einem Jungregisseur auch Gudrun Ensslin und Andreas Baader. Letzterer galt damals in der Szene als „verrückter Typ“, der eine Vorliebe für schnelle Autos hatte. Dass er sich im Gegensatz zu den meisten Studenten auch auf Schlägereien einließ, verschaffte ihm ein gewisses Ansehen. Der Betonbauer und Ex-Terrorist Bommi Baumann brachte es auf den Punkt: „Die Brandstiftung ist natürlich auch eine Konkurrenzgeschichte. Wer die knallhärtesten Taten bringt, der gibt die Richtung an.“ Die Brandstifter, die zu je drei Jahren Haft verurteilt wurden, sahen ihre Tat als Fanal gegen den Vietnamkrieg.
Wie ein Flächenbrand raste die Studentenrevolte 1967/68 über die Bundesrepublik. Gegen Amerikas Krieg in Vietnam gingen Tausende mit „Ho-Ho-Ho-Chi-Minh“-Sprechchören auf die Straße. Gegen das kapitalistische System wurde die rote Fahne geschwenkt, der Sowjetstern auf Häuserwände gemalt und in bierdunstigen Studentenkneipen mit Mao und Marx argumentiert. Dass mit Che Guevara und Martin Luther King binnen eines halben Jahres gleich zwei internationale Leuchtgestalten im Kampf gegen Unterdrückung und Diskriminierung ermordet worden waren, nährte den Hass gegen das „imperialistische System“. Rudi Dutschke, Symbolfigur der studentischen Rebellion, donnerte gegen das verzopfte Universitätssystem, predigte den Widerstand gegen die bürgerlichen Spielregeln und gemahnte an die Anstrengungen „des langen Marsches durch die Institutionen“. Der Boulevardpresse ist er ein Dorn im Auge. Der 23-jährige Anstreicher Josef Bachmann, ein als „lieb und arbeitsam“ beschriebener Zonenflüchtling, nimmt die Schlagzeile „Stoppt Dutschke jetzt!“ ernst. Am 11. April 1968, dem Gründonnerstag, jagt er dem Studentenführer auf offener Straße zwei Kugeln in den Kopf, eine dritte in die Schulter. Dutschke überlebt nach einer fünfstündigen Notoperation, zu Heiligabend 1979 stirbt er an den Spätfolgen des Attentats. Bachmann nimmt sich 1970 in der Zelle das Leben.
Der Anstifter für das Attentat war schnell ausgemacht – die Springer-Presse. Der SDS rief zum Aufruhr. Massenhaft zogen in deutschen Großstädten Demonstranten vor Springer-Häuser. Pflastersteine flogen, Scheiben splitterten, Auslieferungsfahrzeuge wurden in Brand gesteckt. Ein 22.000 Mann starkes Aufgebot der Polizei antwortete mit Gummiknüppeln, Wasserwerfern und Tränengas. Vier Tage lang erlebte Deutschland einen ungezügelten Ausbruch von Gewalt bei Demonstranten und Polizei. Die Bilanz der Osterunruhen: 600 Festnahmen, Hunderte Verletzte und zwei Tote. Diesmal kannten auch die Liberalsten keinen Pardon: „Die zwei Toten gehen auf das Konto des SDS“, schrieb Rudolf Augstein im „Spiegel“. Die „Zeit“ ging mit dem „SDS als Schreibtischtäter“ hart ins Gericht, und Günter Grass, von der Gewalt und Unvernunft der Studenten enttäuscht, meinte, dass sie nun gerade das gemacht hatten, was die Springer-Presse von ihnen erwartet hatte.
1969 schien eine politische Wende in Sicht. Die sozialliberale Koalition unter Willy Brandt und Walter Scheel setzte zahlreiche gesellschafts- und bildungspolitische Reformen um. Die besonnenen Studenten unterstützen den neuen Regierungskurs. 1970 hatte Bundespräsident Gustav Heinemann mit einer großzügigen Amnestie einem Großteil der 10.000 jungen Menschen, gegen die ein Verfahren wegen Demonstrationsdelikten lief, die Gefahr einer Vorstrafe genommen. Der SDS zerfiel, und seine Nachfolger stritten darum, ob das Erbe nun nach Lenin, Stalin, Marx, Trotzki oder Mao auszulegen sei. Ein paar Dutzend APO-Genossen tauchten in den Untergrund ab.
Am 14. Mai 1970 trifft die „konkret“-Journalistin Ulrike Meinhof in einem Universitätsinstitut in Berlin-Dahlem den Häftling Andreas Baader, dem man für ein gemeinsames Buchprojekt einen Freigang erlaubt hatte. Wenig später dringen vier bewaffnete Personen in den Raum ein und verhelfen Baader zur Flucht, wobei ein 62-jähriger Institutsangestellter schwer verletzt wird. Dies war der Auftakt zu einem blutigen Jahrzehnt, durch das die „Rote Armee Fraktion“ eine mörderische Spur ziehen wird und das – so zeigen es die aktuellen Ereignisse um die vorzeitige Entlassung von Brigitte Mohnhaupt und dem erfolglosen Grandengesuch von Christian Klar – die deutsche Gesellschaft noch immer nicht zur Ruhe kommen lässt.
Erschienen in "Wiener Zeitung", 1.6.2007