Deutschland im Herbst

Die "Rote Armee Fraktion" forderte den Staat bis zum Äußersten

Wer heute vom "Deutschen Herbst" spricht, tut dies in der Regel mit jener Abgeklärtheit, die ein Ereignis mit dem Sicherheitsabstand von 25 Jahren der ziemlich unbedrohlichen Kategorie Zeitgeschichte zuordnen lässt. Der "Deutsche Herbst" war keine Jahreszeit. Er hat nichts mit welkem Laub zu tun, er begann im April und endete im Oktober. Vielmehr war es die Zustandsbeschreibung einer Republik, die hart am Staatsnotstand dahin schrammte. Deutschland befand sich 1977 politisch wie physisch, emotional und mental in einem Zustand des kollektiven Allerseelen. Was zehn Jahre zuvor mit einem Protest gegen den Freispruch eines Polizisten, der am 2. Juni 1967 den Studenten Benno Ohnesorg während der Demonstration gegen den Schah-Besuch in Berlin erschossen hatte, begann, war zu einem grausamen und in der Tat irren Kampf gegen das so genannte "Establishment" geworden. Standen am Anfang als Fanal gegen den Vietnamkrieg Kaufhäuser in Flammen, so hatten die Sicherheitskräfte nun alle Hände voll zu tun, das Land vor einem Flächenbrand zu bewahren. Was zunächst nach einer Halbstarken-Gang klang, forderte schließlich den Staat fast bis zum Äußersten, nachdem sich die Baader-Meinhof-Bande zur "Roten Armee Fraktion" gewandelt hatte. Gerade mal die Todesstrafe wurde nicht wieder eingeführt.
Im Frühjahr 1972 hatte die Polizei binnen eines Monats die führenden Köpfe der RAF festgenommen. Den "Kampf der sechs gegen 60 Millionen", wie es Heinrich Böll einmal nannte, hatten die 60 Millionen aber nur scheinbar gewonnen. Nicht nur, weil zu jener Zeit laut einer Umfrage des Allensbacher Meinungsforschungsinstituts jeder vierte Deutsche unter dreißig der RAF "gewisse Sympathien" entgegen brachte. Nicht nur, weil sich immerhin jeder Zwanzigste (in Norddeutschland gar jeder Zehnte) vorstellen konnte, einen gesuchten Untergrundkämpfer für eine Nacht zu beherbergen. Sondern vor allem deswegen, weil das BKA laut dessen Chef Horst Herold "1200 hoch gefährliche Leute" im Raster ihrer Fahndung hatte. Diese Zahl sprengte schon rein rechnerisch die Möglichkeit, der Gefahr durch vorbeugende Maßnahmen zu begegnen. "Denn", so Herold weiter, "für eine lückenlose Observation brauchen wir 20 Leute pro Zielobjekt – 1200 mal 20, so viele Beamte hat die ganze deutsche Kriminalpolizei nicht!" Einige dieser 1200 werden es sein, die die so genannte 2. Generation der RAF bilden und den Herbst über Deutschland bringen werden.
In dem 1975 im eigens errichteten, hoch gesicherten Gebäude von Stuttgart-Stammheim eröffneten Prozess gegen den harten Kern der RAF standen 1977 noch drei Angeklagte vor Gericht. Die Pastorentochter Gudrun Ensslin, der ehemalige Soziologiestudent Jan-Carl Raspe und Andreas Baader, die schrillste Figur von allen. Zwei RAF-Angehörige waren während der Haft gestorben. Holger Meins überlebte 1974 einen Hungerstreik nicht, Ulrike Meinhof hatte sich im Mai 1976 in ihrer Zelle erhängt.
Brigitte Mohnhaupt, RAF-Aktivistin der ersten Stunde, wurde Anfang 1977 aus einer vierjährigen Haft und mit dem Auftrag Baaders entlassen, die Befreiung der noch einsitzenden Häftlinge voran zu treiben. Bisherige Versuche waren fehlgeschlagen. Günther von Drenkmann, Berlins obersten Richter, kostete der Versuch, sich seiner Entführung zu widersetzen, im November 1974 das Leben. Ein halbes Jahr später endete die Besetzung der deutschen Botschaft in Stockholm mit drei Toten, als die Terroristen den im Botschaftsgebäude angebrachten Sprengstoff versehentlich zur Explosion brachten. Einzig mit dem im Februar 1975 von der "Bewegung 2. Juni" durchgeführten Kidnapping des Berliner CDU-Politikers Peter Lorenz konnten fünf inhaftierte Angehörige der unteren Aktivistenebene freigepresst werden.
Drei Wochen nach ihrer Entlassung war Mohnhaupt in den Untergrund abgetaucht, um die RAF für die "Offensive '77" neu zu formieren. Das Jahr 1977 markierte den blutigen Höhepunkt in der Auseinandersetzung zwischen den Untergrundkämpfern und dem Staat. Am 7. April erschoss ein RAF-Kommando Generalbundesanwalt Siegfried Buback, im Bekennerschreiben hieß es lapidar, man habe einen "Akteur des Systems hingerichtet". Drei Wochen später, am 28. April, wurden Baader, Ensslin und Raspe wegen vierfachen Mordes, 34fachen Mordversuchs und wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung zu lebenslangen Haftstrafen verurteilt. Für die Gesinnungsgenossen in Freiheit stieg der Druck zu handeln.
Am 30. Juli wurde Jürgen Ponto, Generaldirektor der Dresdner Bank, von Brigitte Mohnhaupt und "einem Mann im braunen Feincordanzug" in seiner Villa erschossen. Dass Susanne Albrecht, Tochter aus einer mit Ponto eng befreundeten Familie, die Mörder eingeschleust hatte, veranlasste Innenminister Werner Maihofer zu dem Ausspruch: "Es gibt keinen Kapitalisten, der nicht seinen Terroristen im nächsten Verwandtschafts- oder Bekanntenkreis hat." Der Mord war tragisch, aber ein Fehlschlag. Ein von der Polizei neben dem Fluchtwagen sichergestellter VW-Bus bestätigte den Verdacht, dass Ponto als Geisel für einen Häftlingsaustausch entführt werden sollte. Und als einen Monat später ein Sprengstoffanschlag auf das Gebäude der Bundesanwaltschaft in Karlsruhe scheiterte, weil der Zeitzünder versagte, war die RAF von der Befreiung ihrer Genossen, der "Big Raushole", gleich weit entfernt wie zu Beginn des Jahres.
Die nächste Aktion, so die Spekulation der RAF, musste nicht nur unbedingt erfolgreich sein, sondern sich gegen eine so prominente Persönlichkeit richten, dass der Staat die Freilassung der Häftlinge nicht ausschlagen konnte. Das Opfer stand bereits seit Dezember 1976 fest. Damals fiel dem BKA ein Papier in die Hände, auf dem vermerkt war: "H.M auschecken, big money diskutieren, wo den Typ bunkern?" Am 5. September 1977 lüftete sich das Geheimnis um H. M.: Hanns-Martin Schleyer, ein geradezu prototypisches Opfer. Seine persönliche Biografie vom SS-Mann zum erfolgreichen Wirtschafter stand als Sinnbild für die nahezu ungebrochene Kontinuität Deutschlands vom NS-Staat zur Demokratie. Als Vorstandsmitglied von Daimler-Benz war er eine einflussreiche Größe im sogenannten industriell-militärischen Komplex. Als Arbeitgeberpräsident schließlich verkörperte er als Boss der Ausbeuter den Kapitalismus schlechthin. Von einem fünfköpfigen Terrorkommando wurde Schleyer in Köln entführt, sein Chauffeur sowie drei in einem zivilen Polizeiwagen folgende Beamte waren erschossen worden. Die Entführer verlangten die Freilassung von insgesamt zehn RAF-Häftlingen und eine Million D-Mark.
Für Bundeskanzler Helmut Schmidt kam ein Gefangenenaustausch nie in Frage. In einer Fernsehansprache kurz nach der Entführung sagte er: "Der Staat wird mit aller Härte antworten. Alle Polizei- und Sicherheitsorgane (...) haben die uneingeschränkte Unterstützung der Bundesregierung und ebenso meine sehr persönliche Rückendeckung." Die harte Linie war mit CDU-Chef Helmut Kohl abgesprochen.
Später wurde bekannt, dass ein Fahnder Schleyers Versteck, ein Hochhaus-Appartement in Erfstadt-Liblar, so gut wie eruiert hatte. Doch das Fernschreiben mit dem brisanten Hinweis war aus ungeklärten Gründen im BKA nie eingelangt. Anstatt die Situation mit der durchaus möglich gewesenen Befreiung Schleyers in den Griff zu bekommen, eskalierte sie am 13. Oktober. Arabische Terroristen, zwei Männer und zwei Frauen, entführten kurz nach dem Start in Palma de Mallorca die Lufthansa-Maschine "Landshut" mit 86 Passagieren und fünf Besatzungsmitgliedern an Bord. Die Entführer forderten die Freilassung der RAF-Gefangenen und zweier in der Türkei inhaftierte Palästinenser sowie ein Lösegeld von fünfzehn Millionen Dollar. Nach einem Irrflug über dem Mittelmeer, dem Persischen Golf und dem Nahen Osten landete die Maschine am 17. Oktober schließlich in der somalischen Hauptstadt Mogadischu.
Kurz nach der Entführung war in Köln ein Flugzeug gestartet, das der "Landshut" gewissermaßen hinterher flog. An Bord waren keine gewöhnlichen Passagiere, sondern dreißig Mann der Elitetruppe GSG 9. Diese Spezialeinheit war fünf Jahre zuvor als Reaktion auf den furchtbar misslungenen Befreiungsversuch der von der Bewegung "Schwarzer September" während der Olympischen Sommerspiele in München gekidnappten israelischen Sportler gegründet worden. Am Flughafen von Fürstenfeldbruck starben damals 17 Menschen, das Bild vom ausgebrannten Polizeihubschrauber ging um die Welt, das Desaster sorgte für unrühmliche Schlagzeilen.
Das Desaster wiederholte sich nicht. In der Nacht vom 17. auf den 18. Oktober stürmten die Männer der GSG 9 die "Landshut" und hatten die Geiseln in einer siebenminütigen Blitzaktion befreit. Drei der vier Entführer fanden im "Feuerzauber" – so der Codename des Einsatzes - den Tod. Passagiere wie Besatzungsmitglieder waren unversehrt geblieben, einzig Pilot Jürgen Schumann kam im Sarg nach Deutschland zurück. Ihn hatten die Entführer am Tag vor der Befreiung erschossen.
Am Morgen des 18. Oktober fanden Vollzugsbeamte im Hochsicherheitstrakt von Stammheim drei tote Terroristen. Andreas Baader hatte sich wie Jan-Carl Raspe erschossen, Gudrun Ensslin sich erhängt. Irmgard Möller hatte sich mit einem Besteckmesser viermal in die Brust gestochen, doch sie überlebte. Am 19. Oktober entdeckten französische Polizisten das letzte Opfer des Blutjahres 1977. Im Kofferraum eines in Mühlhausen abgestellten Audi lag die Leiche von Hanns-Martin Schleyer.
Der "Deutsche Herbst" war zu Ende, der Staat hatte den Kampf gegen den Terrorismus gewonnen. Zwar verübte die RAF nach dem Tod ihrer Anführer noch einige spektakuläre Anschläge, jedoch stellte sie nie mehr eine solche Bedrohung wie in den Siebzigerjahren dar.
Es sind Mythen, die bleiben. Die Toten von Stammheim – bis heute reißen die Spekulationen mancher, es sei eine Hinrichtung gewesen, nicht ab. Zwanzig Jahre nach dem "Deutschen Herbst" erlebten wir so etwas wie eine Guerilla-Folklore. Ehemalige RAF-Aktivisten, inzwischen aus der Haft entlassen, wurden zu großen Podiumsdiskussion geladen, traten in Talkshows auf, standen prominenten Interviewern Rede und Antwort. Sprachen von ihren sozialrevolutionären Utopien, von der Pervertierung des Klassenkampfes, von ihrem Aufenthalt in der DDR, die manchem Kämpfer ein sicheres Exil bot, bis die Mauer fiel. Derlei Auftritte wird es vermutlich nicht mehr geben. Mit dem 11. September 2001 hat der Terrorist endgültig die romantische Maske des Revolutionärs verloren.
Es ist ein düsteres Erbe, das Deutschland zu tragen hat. Was gewissermaßen als Notstandsrecht gegen die RAF eingesetzt wurde, geriet mit der Zeit zum strafrechtlichen Standard: Das Kontaktsperregesetz, mit dem die Verbindung von Gefangenen zur Außenwelt und untereinander verhindert wurde, trat in Kraft. Man erweiterte die Gründe für den Ausschluss eines Verteidigers, erleichterte die Bestimmungen für Wohnungsdurchsuchungen, führte Telefonüberwachung, Raster- und Schleppnetzfahndung ein. Nachdem sich die RAF 1998 offiziell aufgelöst hatte, verlangten die Grünen, die entsprechenden Gesetze zu überprüfen und gegebenenfalls zu revidieren. Otto Schily, seinerzeit Verteidiger von Gudrun Ensslin, meinte als SPD-Abgeordneter noch vor wenigen Jahren, dass es ein Fehler gewesen sei, "die politische Dimension unterschätzt" zu haben und dem Terror "nicht auch argumentativ begegnet" zu sein. Die Grünen sind mittlerweile Koalitionspartner, Schily ist Innenminister, von einer Prüfung der Anti-RAF-Gesetze ist keine Rede mehr.
Die Erinnerungen an die Entsetzlichkeiten des Terrors verstellen nahezu vollständig den Blick auf das, was auch war: Der vor allem von der linken Studentenschaft getragene und weite Teile des gesellschaftlichen Lebens umfassende demokratische Aufbruch. Der Protest gegen Obrigkeiten und die Beteiligung des Bürgers an der Politik. Wackersdorf, Gorleben und Startbahn West gelten heute als Wegmarken für eine Entwicklung, die von der ehemals anrüchigen außerparlamentarischen Opposition bis zur Gründung einer neuen Partei führt. Es ist das deutsche Paradoxon der Siebzigerjahre, dass just in jenem Jahrzehnt, das im kollektiven Bewusstsein mit dem sozialdemokratischen Slogan "Mehr Demokratie wagen!" in Verbindung gebracht wird, der Druck des Terrors eine bis in die Gegenwart anhaltende Rigidität ausgelöst hat.

Erschienen in "Wiener Zeitung", 20.9.2002