Hasenjagd zu Maria Lichtmess
Am 2. Februar 1945 wurde im Mühlviertel öffentlich zum Morden aufgerufen
Mauthausen, Anfang Jänner 1945. Im hierorts bestehenden Konzentrationslager bereiteten Häftlinge Unglaubliches vor: Sämtliche gehfähige Gefangene des Blocks 20 sollten in einem Massenausbruch den Sturm in die Freiheit wagen, um derart dem ihnen mit Sicherheit bestimmten KZ-Tod zu entkommen.
Der Block 20 fand seit je her spezielle Verwendung. Hierher kamen kranke Häftlinge oder solche, die bald getötet werden sollten, allgemein galt er als „Todesblock“. Am 2. März 1944 wurde von Wilhelm Keitel, dem Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, der Geheimbefehl zur „Aktion K“ erlassen. Er ordnete - entgegen dem Völkerrecht - an, russische Offiziere nicht als Kriegsgefangene zu behandeln, sondern ins KZ Mauthausen zu verschleppen. „K“ stand für „Kugel“. Den schnellen Tod durch Erschießen fand kaum einer dieser Häftlinge, die meisten verhungerten. In den zehn Monaten seit Erlass der „Aktion K“ waren im Block 20 des KZ Mauthausen 4000 Mann zu Tode gekommen.
Anfang des Jahres 1945 neu zugegangene Häftlinge erkannten, wie aussichtslos es war, auf die Befreiung des Lagers zu warten. 600 Männer mussten sich den Platz in einer für nur halb so viele Personen ausgelegten Baracke teilen. Vom übrigen Lager war der Block 20 durch eine Mauer, auf der ein 380-Volt-Stacheldraht lief, abgetrennt. Ein MG-Posten auf einem Wachturm sicherte nachts den Block. Tagsüber hatten die Häftlinge im Blockvorhof strammzustehen oder die schikanösen SS-Anweisungen zu den „Leibesübungen“ zu befolgen. Im gehockten Gänsemarsch wurden sie durch den Vorhof getrieben, bis die Schwächsten aus der Reihe kippten, vor Erschöpfung und Entkräftung nicht aufstehen konnten, von den SS-Aufsehern erschossen oder zu Tode getreten wurden.
K-Häftlinge wurden nicht zur Arbeit herangezogen. Die Lagerleitung befürchtete, dass sich ihnen hierbei Fluchtmöglichkeiten bieten könnten. Außerdem sollte der Kontakt zu anderen Gefangenen verhindert werden. Nachts schliefen die Gefangenen in der von Möbeln geräumten Baracke am Fußboden, auf Grund des geringen Platzes in Sardinenlage, Kopf an Fuß. In der kalten Jahreszeit wurde der Fußboden manchmal mit Wasser ausgespritzt, am nächsten Morgen war so mancher mit einer Lungenentzündung aufgewacht, der er wenige Tage später erlag. Die von der Lagerleitung vorgegebene Tagesnorm, die zu erfüllen war, lag bei zehn Toten. Allein die unzureichende Nahrungsversorgung – alle drei Tage eine dünne Steckrübensuppe – ließ die Gefangenen nur wenige Wochen überleben. Auch wenn alliierte Truppen im Westen bereits die deutsche Grenze überschritten hatten und die Rote Armee bei Budapest stand, würde doch noch zu viel Zeit vergehen, um die Befreiung zu erleben. Diese war in jedem Fall ohnehin nur von theoretischer Natur, weil die K-Häftlinge davon ausgehen mussten, dass sie vor Ankunft ihrer Befreier von der SS erschossen würden.
Die Todgeweihten entschlossen sich zur Flucht. In der Nacht vom 1. auf den 2. Februar 1945 gelang 419 Häftlingen der Ausbruch aus dem Block 20. Seitens der Kommandantur des KZ Mauthausen wurde allen, also SS, SA, HJ, Gendarmerie, Volkssturm und Zivilbevölkerung, die Beteiligung an der Verfolgung der Ausgebrochenen befohlen. Es war der 2. Februar 1945, 0.50 Uhr. Die „Mühlviertler Hasenjagd“, wie die SS die Einholung der Gefangenen bezeichnete, hatte begonnen.
In den frühen Morgenstunden jenes Tages, es war Maria Lichtmess, wurde im Mühlviertel öffentlich zum Morden aufgerufen und die Mobilmachung des allerletzten Aufgebots betrieben. Alte Männer wurden aus den Betten geholt, wenige nur konnten sich mit dem Hinweis auf ein schweres körperliches Leiden oder eine stark verminderte Sehkraft dem Einzug zum Volkssturm entziehen. Junge Buben bekamen ein Gewehr in die Hand gedrückt und wurden derart zu erwachsenen Kämpfern geadelt, die Haus, Hof und Familie gegen die marodierenden und angeblich höchst gefährlichen KZ-Ausbrecher zu schützen hatten. In Orten wie Mauthausen, Schwertberg, Haid, Ried in der Riedmark, Pregarten, Tragwein und den umliegenden Wäldern hetzten Menschen Menschen zu Tode, ermordeten oberösterreichische Bauern, Fleischhacker, Beamte und Gewerbetreibende ausgehungerte, abgemagerte, körperlich extrem geschwächte und unbewaffnete russische Offiziere. Was an Toten liegen blieb, schaffte die SS zu Sammelstellen, wo die Leichen gestapelt und teils mehrere Tage zur Abschreckung liegen gelassen wurden. Pritschenwagen brachten die Toten zurück ins Lager, innerhalb der ersten 24 Stunden waren 300 Flüchtige aufgegriffen – und ermordet worden.
Teils aus Überzeugung, teils eingeschüchtert von den Drohungen der SS, der Ortsgruppenleiter und des KZ-Kommandanten Franz Ziereis, der von Ort zu Ort raste, die Teilnahme an der Menschenhatz anordnete und „Drückebergern“ sowie allen, die den Flüchtigen in irgendeiner Weise Hilfe oder gar Schutz zukommen ließen, die Verschickung ins Lager in Aussicht stellte, nahmen Teile der Zivilbevölkerung an der Verfolgung teil.
Sie denunzierten oder legten selbst Hand an: Ein Bauer, der mit einem Sauschlegel einen Flüchtigen erschlug. Ein Volkssturmmann, der einem Entsprungenen zunächst eine Ladung Zwölferschrot in den Rücken jagte und ihn anschließend mit heftigen Tritten gegen den Kopf zu Tode brachte. Ein Fleischer, der einen Häftling bei der Suche nach Essen ertappte und abstach. Ein Gemischtwarenhändler, der mit einem Gewehr bewaffnet in den Gemeindekotter eindrang und unter den dort verwahrten K-Häftlingen ein Blutbad anrichtete. Ein Versicherungsangestellter, der während seines Fronturlaubes etwa zwanzig verwundete Häftlinge durch Genickschuss liquidierte, sich seine Hoffnung jedoch, dadurch zum Offizier befördert zu werden, nicht erfüllte. Ein hoher Beamter der Gauverwaltung, der sich nach Rückkehr auf seinen Arbeitsplatz ob seines mörderischen Einsatzes brüstete. HJ-Buben, die von SS-Angehörigen gezwungen wurden, aufgegriffene Entsprungene zu erschießen. Der Jugendliche Karl Buchberger, den die blindwütige Schießerei das Leben kostete, weil ihn ein SS-Mann für einen flüchtigen Russen hielt. Beispiele der Grausamkeit, denen zahlreiche andere hinzugefügt werden könnten.
Jedoch in all dieser Bestialität wurden auch mutige Zeichen der Hilfsbereitschaft und Nächstenliebe gesetzt. Die Kübel mit gekochten Erdäpfeln und warmer Milch, die vor die Häuser gestellt wurden. Das Gewand, das mancherorts auf die Wäscheleine gehängt wurde, um die Verwandlung vom Häftling zur Zivilperson zu ermöglichen. Die Kühe, die von Bauern in den Schnee hinausgetrieben wurden, um die Fußspuren der Flüchtenden zu zerstören. Die Volkssturmmänner, die wegsahen, wenn ihnen wieder einige von diesen ausgemergelten Gestalten vor die Flinte liefen. Die Gendarmen von Schwertberg und Mauthausen, in deren Rayons zwar die meisten Häftlinge aufgegriffen wurden, die sich selbst jedoch aus der aktiven Verfolgung heraushielten.
Und schließlich jene, die der Courage Namen und Gesicht gaben. Etwa die Familie Langthaler, die auf ihrem Hof in der Nähe von Schwertberg Nikolai Zemkalo und Michael Rjabschtinskij bis zum Kriegsende versteckten und dafür später sowohl von Österreich als auch der Sowjetunion offiziell ausgezeichnet wurden. Oder das Ehepaar Huber in Holzleiten, das den Ostarbeiter Leonid Schaschera nie danach fragte, wofür er die regelmäßig abgezweigten größeren Essensrationen verwendete. Vielleicht wollte es auch gar nicht wissen, dass damit gleich drei Russen durchgefüttert wurden, die ausgerechnet im Hof des Bürgermeisters untergeschlüpft waren und dabei doppeltes Glück hatten. Zum einen gelangten sie trotz regelmäßiger Kontrollgänge der Gendarmerie unbemerkt in das Gehöft, zum anderen hielt genau diese als zuverlässig erachtete Sicherheitsmaßnahme die SS von Nachforschungen auf dem Anwesen des Bürgermeisters ab.
Ein eher unbekanntes, aber für die Wirren jener Wochen und vor allem die Perfidität der unmittelbaren Nachkriegszeit anschauliches Beispiel sind die Vorgänge rund um die Rettung des Semjon Schakow, der am Hof der Familie Mascherbauer in Schwertberg eine von mehreren Volkssturmmännern durchgeführte Suchaktion überlebte, bei der seine zwei Fluchtgefährten ermordet worden waren. In den kommenden Monaten, die Schakow am Hof blieb, freundete er sich mit der aus Polen stammenden Magd an, was die Bauersleute – vor allem in Hinblick auf eine eventuelle und dann nur mühevoll zu erklärende Schwangerschaft – zwar nicht gerne sahen, aber geschehen ließen. Als die Magd an einen Nachbarsbauern abgetreten wurde, vermutete sie dahinter den gezielten Versuch ihres ehemaligen Dienstherrn, ihre Beziehung zu Schakow zu zerstören. Kurz nach Kriegsende tauchte auf dem Hof der Mascherbauers eine Gruppe Männer auf, die sehr unwirsch Butter, Eier und Fleisch forderte. Diese Männer – ob es wie behauptet tatsächlich Häftlinge des kurz zuvor befreiten Konzentrationslagers oder nun die Höfe verlassende Ostarbeiter waren, geht aus den Quellen nicht klar hervor – dürfte wohl die ehemalige Magd, die sich einige Wochen zuvor ungerecht behandelt gefühlt hatte und nun rächen wollte, geschickt haben. Mit den Vorwürfen, dass die Bauersleute auf KZler losgegangen seien und eine polnische Dienstbotin schlecht behandelt hätten, drohten sie, gleich selbst die Lebensmittelvorräte auszuräumen. Es war ein Glück für die Familie Mascherbauer, dass der bereits abgezogene Semjon Schakow einen Brief hinterlassen hatte, in dem er sie als jene wenige Menschen lobte, die sich während und nach der „Mühlviertler Hasenjagd“ gegenüber den entsprungenen K-Häftlingen äußerst hilfsbereit zeigten.
Nicht nur veranlasste dieser Brief in jenem Fall die Männer zur Entschuldigung und Umkehr, er bewahrte den Mascherbauer in einem anderen Fall auch vor einer hohen Gefängnisstrafe, rettete ihm vielleicht sogar das Leben. Denn einer jener Volkssturmmänner, die seinerzeit auf seinem Gehöft zwei Russen umgebracht hatten, bezichtigte nun Mascherbauer bei der Besatzungsbehörde des Mordes an einem der beiden. Obwohl der Gendarmeriepostenkommandant Johann Kohout bestätigte, dass es sich hier um eine Verleumdung handelte, wurde Mascherbauer erst durch Schakows Brief endgültig entlastet.
Wenn nun in Mauthausen, Schwertberg und Ried in der Riedmark sechzig Jahre nach diesen Ereignissen große Gedenkfeiern abgehalten werden, so sind sie zunächst in erster Linie ein Gedenken an eine mörderische Hatz auf hunderte von wehrlosen Menschen, die nur etwa zwanzig überlebt haben. Sie sind auch eine Respektsbezeugung gegenüber dem großen Mut jener Männer und Frauen, die unter Einsatz ihres Lebens das Leben anderer gerettet haben. Zugleich sind sie aber auch eine Mahnung an den Zynismus der Geschichte, dass mit Ausnahme der Familie Langthaler kein Fall bekannt ist, in dem sich der Kontakt zwischen Rettern und Geretteten erhalten hat, weil die in ihre Heimat zurückgekehrten Offiziere im stalinistischen Russland einen Prozess wegen Kollaboration mit dem faschistischen Feind befürchten mussten, sollten sie bekannt geben, als Gefangene eines Konzentrationslagers überlebt zu haben. Nicht zuletzt veranschaulichen die „Mühlviertler Hasenjagd“ und die mit ihr in Zusammenhang stehenden Ereignisse nach dem Krieg den kümmerlichen Zustand des menschlichen Charakters, der es ermöglicht, dass unter bestimmten Umständen nahezu jeder zum Mörder oder Denunzianten werden kann, falls es politisch opportun ist.
Erschienen in "Wiener Zeitung", 28./29.1.2005