Rechenschaft statt Rache

56 Jahre nach seinen Verbrechen steht der SS-Mann Malloth vor Gericht

Möglicherweise ist der Prozess, der gegenwärtig in München-Stadelheim geführt wird, der letzte dieser Art überhaupt. Vor Gericht ein 89-jähriger Greis, der auf den Rollstuhl angewiesen ist und dem man Kopfhörer aufgesetzt hat, weil er halb taub ist. In seiner Speiseröhre wuchert ein Tumor. Eine erbarmenswerte Kreatur, dieser Anton Malloth, dem erst drei Ärzte allseitiges Orientierungsvermögen bescheinigen mussten, bevor ihm Verhandlungsfähigkeit attestiert wurde. Eine erbärmliche Figur, dieser SS-Mann, wenn man mehr als fünfzig Jahre zurück blendet. Wenn ehemalige Gefangene von den Schrecklichkeiten im Gestapo-Gefängnis "Kleine Festung" von Theresienstadt berichten. Wenn sie als Zeugen über die Taten des "schönen Toni", wie sie ihn nannten, aussagen. In diesem halben Jahrhundert hatte das Räderwerk der Justiz diesen mutmaßlichen mehrfachen Mörder mehrmals erfasst und mehrmals ausgespuckt, ehe es – eigentlich schon still gestanden – durch einen Zufall wieder in Gang gebracht worden war.
Verworren wie der Weg zum derzeitigen Prozess ist auch die Biografie des Angeklagten. 1912 in Innsbruck als uneheliches Kind der Weißnäherin Maria Malloth geboren, wurde Anton früh zu Bauersleuten in Schenna bei Meran in Pflege gegeben. Das karge Brot seiner Mutter reichte nicht aus, den Vater hatte er nie kennen gelernt. Er besuchte die achtklassige Volksschule und absolvierte danach eine Fleischer-Lehre. Ab 1933 diente er eineinhalb Jahre in der italienischen Armee, verdingte sich danach vier Jahre als Barmixer, wurde wieder eingezogen. Als Hitler Südtirol an Italien abtrat, nutzte er die Gelegenheit, deutscher Staatsbürger zu werden. Wenig später brach der Krieg aus, Malloth wurde für die Wehrmacht gemustert, zur Grenzpolizei in die Ausbildung geschickt und danach als Aufseher in einem Prager Gefängnis eingesetzt. Als im Juni 1940 in der "Kleinen Festung" ein Gestapo-Gefängnis eingerichtet wurde, kam Malloth nach Theresienstadt.
Unter Kaiser Josef II. war die Festung nach der Niederlage Österreichs im Siebenjährigen Krieg zwischen 1780 und 1784 als Verteidigungsanlage gegen die Preußen errichtet worden. Als Militärobjekt wurde sie nicht lange genutzt, als solches aber erst etwa hundert Jahre später offiziell aufgelassen und in ein Gefängnis umgewandelt. Die polnische Freiheitskämpferin Anna Rosicka saß hier ebenso ein wie der Attentäter von Sarajevo 1914, Gavrilo Princip. Die Nationalsozialisten hatten den gesamten Bau ihrer eigenen Bestimmung zugeführt, die "Große Festung" zum "Ghetto Theresienstadt" und den kleineren Vorbau zum Gestapo-Gefängnis gemacht.
In der "Kleinen Festung" waren während der fünfjährigen Okkupation durch die Deutschen etwa 27.000 Männer und 5000 Frauen inhaftiert, vor allem Angehörige des tschechischen Widerstands und Juden. Die Sterbebücher weisen 2500 Tote aus. Gemessen an der in der Regel kurzen Aufenthaltsdauer der Häftlinge, für die die "Kleine Festung" meist nur eine Durchgangsstation ins KZ war, ein hohe Zahl.
Heinrich Jöckel, der Kommandant, galt als brutal und unberechenbar. Nicht nur gegenüber den Inhaftierten, auch gegenüber den Aufsehern. Die ließen in der Regel die erlittenen Demütigungen hemmungslos und gewalttätig an den Gefangenen aus. Doch unter den 17 Aufsehern gab es einen, der nicht vergessen hatte, dass jeder Häftling auch ein Mensch war. Dieser Eine hieß Theodor Hohaus und war für die Verpflegung zuständig. Er steckte bedürftigen Häftlingen zusätzliche Lebensmittel zu, organisierte Medikamente, die er einschmuggelte und Kranken zukommen ließ. Als 1946 in Leitmeritz ihm, dem Kommandanten Jöckel und einigen Aufsehern der Prozess gemacht wurde, boten sich zahlreiche Häftlinge als Entlastungszeugen für Hohaus an. Während seine Mitangeklagten gehängt wurden, konnte es sich Hohaus sogar erlauben, nach dem Krieg in der Tschechoslowakei zu bleiben. Damals, als sich die Ohnmacht der einstigen Besetzten schon längst in Wut und Rachsucht gegen die ehemaligen Besatzer gewandelt hatte und die "Kleine Festung" den nahtlosen Übergang vom Nazi-Gefängnis zu einem berüchtigten Internierungslager für Sudetendeutsche und reichsdeutsche Flüchtlinge genommen hatte.
Einigen Aufsehern war vor dem Einmarsch der Roten Armee die Flucht geglückt, so auch Malloth. Er hielt sich zunächst in Deutschland auf, begab sich aber bald nach Österreich, wo er in Fulpmes in Tirol festgenommen wurde. In Innsbruck saß er in Auslieferungshaft, von einem tschechischen Gericht wurde er in Abwesenheit zum Tode verurteilt. Um den Jahreswechsel 1948/49 übersandte das tschechische Justizministerium dem österreichischen das ausführlich begründete Urteil. Wahrscheinlich war auch ein neues Auslieferungsbegehren gestellt worden. Irgendwo wurde von irgendwem der Aktenlauf verzögert – eine durchaus übliche Praxis, um dem begehrenden Land dann mitzuteilen, dass es eine Frist nicht eingehalten hätte. Malloth kam auf diese Art frei, am 15. Jänner 1949 wurde er aus dem Gefängnis entlassen.

Etwa zur selben Zeit hatte man auch in Graz einen ehemaligen SS-Aufseher aus der "Kleinen Festung" verhaftet. Stefan Rojko hieß er, nach der Pflichtschule hatte er in der weststeirischen Pfarre Deutschlandsberg gearbeitet. Nachdem er im Juli 1934 als Angehöriger der "ostmärkischen Sturmscharen" einen drohenden Überfall der Nazis auf das Pfarrhaus abgewendet hatte, erhielt er gar eine Auszeichnung in Bronze. Als sich 1938 die Zeiten änderten, meldete er sich zur Schutzpolizei, seine ehemals nazi-feindliche Gesinnung blieb unentdeckt. Wie Malloth wurde auch er zunächst als Öffner und Schließer in den Prager Gefängnissen Pankratz und Karlsplatz eingesetzt, im September 1940 schließlich in die "Kleine Festung" abkommandiert. Die Dienstwohnung bezog er gemeinsam mit seiner Gattin, sie wird zwei Jahre später Aufseherin im Frauenhof.
Als SS-Wächter war der ehemalige Mesner zum Massenmörder geworden. Nach seiner Verhaftung meldeten sich zahlreiche Zeugen, die den "Henker von Theresienstadt" schwer belasteten. Dem entgegen standen nur einige wenige Aussagen zu Gunsten Rojkos, unter anderem die eines hochrangigen Gendarmeriebeamten und jene eines steirischen Landtagsabgeordneten. Wirklich genützt hatte ihm aber – vorerst - ein Fehler der tschechischen Behörden: Sie hatten dem Auslieferungsbegehren ein falsches Fahndungsfoto beigelegt. Somit konnte auf "Personenverwechslung" plädiert und Rojko am 7. September 1951 frei gelassen werden.
In der Folge fand er bei einer Grazer Tageszeitung eine Stellung als Expeditarbeiter, die er zehn Jahre ausübte. Auf Grund neuer Zeugenaussagen wurde er 1961 abermals verhaftet und 1963 vor Gericht gestellt. Die Anklage warf ihm 200 Morde vor, das Urteil lautete "Lebenslang". Prozessbeobachter aus dem In- und Ausland sprachen von einer "Rehabilitierung der Grazer Jurisprudenz", die sich zuvor mit mehreren skandalösen Freisprüchen von Nazi-Tätern einen höchst zweifelhaften Ruf erworben hatte.

Höchst zweifelhaft war auch der weitere Verlauf der Fahndung nach Anton Malloth. Der lebte inzwischen schon längst wieder in Italien und arbeitete in Meran als Vertreter einer Elektrofirma. Das deutsche Generalkonsulat in Mailand stellte ihm 1968 einen deutschen Pass aus. Zwei Jahre später eröffnete die Staatsanwaltschaft Dortmund ein Ermittlungsverfahren über Misshandlungen und Tötungen in der "Kleinen Festung". An Malloth wurde dabei nicht gedacht. Man hatte angenommen, dass er kurz nach dem Krieg in der Tschechoslowakei zum Tode verurteilt und hingerichtet worden sei. Als Malloths Pass 1973 ohne Umstände verlängert wurde, wies erst die jüdische Kultusgemeinde in Meran, dann Simon Wiesenthal verschiedene Stellen in Deutschland darauf hin, dass Malloth noch am Leben sei. 1975 bat die Staatsanwaltschaft Dortmund das Gericht in Meran um Amtshilfe im Fall Malloth. Obwohl für den Gesuchten eine "Meldeamtliche Bescheinigung" des Meldeamtes Meran aus dem Jahre 1973 existierte, teilten die Italiener mit, Malloth sei bereits 1972 aus ihrem Land ausgewiesen worden. 1979 wurde das Verfahren eingestellt, da "die Fahndungsmöglichkeiten erschöpft" seien und "der Aufenthaltsort nicht geklärt" werden könne.
1988 kommt wieder Bewegung in den Fall. Malloth war in Meran von der Polizei aufgegriffen worden. Der mittlerweile 76-Jährige wurde nach Deutschland abgeschoben und in München vom Dortmunder Oberstaatsanwalt Klaus Schacht vernommen. Im selben Jahr begann auch der Journalist Peter Finkelgruen, der in Malloth den Mörder seines Großvaters erkennt, mit Recherchen. Diese fasst er in seinem Buch "Haus Deutschland" zusammen. Er hatte einen Tatzeugen ausfindig gemacht, mit einer eidesstattlichen Erklärung dieses Zeugen geht er zu Schacht. Doch der Oberstaatsanwalt glaubt ihm nicht. 1990 wurde das Ermittlungsverfahren eingestellt. Finkelgruen klagte das Land Nordrhein-Westfalen auf Ersatz der Unkosten, die ihm dabei entstanden waren, "was eigentlich im Interesse des Landes sein sollte, nämlich Zeugen und Beweise für die Tat des Anton Malloth zu suchen". Das Landesgericht Dortmund wies die Klage ab, weil die Suche nach Beweisen und Zeugen "nicht dem mutmaßlichen Willen des beklagten Landes" entsprach. Finkelgruen werden DM 824,-- an Gerichtskosten in Rechnung gestellt. Der Rechtsstaat fordert seinen Preis.
Seit 1988 lebt Malloth in Pullach bei München. Gudrun Burwitz, Heinrich Himmlers Tochter, hatte ihm im Auftrag des Vereins "Stille Hilfe für Kriegsgefangene und Internierte" ein Zimmer in einem Altersheim besorgt. Immer wieder beschäftigten sich die Medien mit ihm, etwa 1993, als in Stasi-Akten neue Aussagen zu seinen Taten aufgetaucht waren, aber das Ermittlungsverfahren 1999 abermals eingestellt wurde.
Als sich jedoch wenig später ein bis dahin unbekannter Zeuge bei den tschechischen Behörden meldete und angab, die Erschießung eines Gefangenen durch Malloth bei Erntearbeiten gesehen zu haben, wurde die Staatsanwaltschaft München aktiv. Am 25. Mai 2000 wurde Malloth in Untersuchungshaft genommen, im Dezember Anklage erhoben. Seit 23. April 2001 läuft der Prozess gegen den ehemaligen SS-Aufseher von Theresienstadt.
Die Zeugen der Anklage gleichzeitig Zeugen einer barbarischen Zeit. Jeder von ihnen weit über siebzig. Vergessen haben sie nichts. Nicht die Gemeinschaftszellen, in denen 70 und mehr Menschen auf engstem Raum zusammengepfercht wurden und für die nur eine Toilette zur Verfügung stand. Nicht die SS-Stiefel, die gegen Kopf und Körper traten. Nicht die grausamen Perversitäten, die Hunderte Menschen zu Tode brachten. Nicht die Karren, auf denen die Leichen in die Totenkammer geschoben wurden.
Den Mord an zwei jüdischen Gefangenen, den die Anklage Malloth zur Last legt, hat der nun 73jährige Richard L. aus Pressburg selbst gesehen. Besoffene SS-Männer hatten die beiden Häftlinge, nachdem sie sie gezwungen hatten, sich nackt auszuziehen, solange mit kaltem Wasser abgespritzt, bis sie tot waren. Er selbst hatte später die Leichen weg transportieren müssen. "Malloth war dabei". Ob er für den Tod der beiden verantwortlich sei, könne er nicht sagen. Albert M. (80) schildert, wie Malloth solange auf einen Mann eingetreten hatte, bis dieser stark aus dem Mund zu bluten begann und hernach in die Leichenkammer geschafft wurde.
Die belastendste Aussage kommt wohl von Jiri K. aus Prag. Der heute 76-Jährige hatte sich 1999 bei den tschechischen Behörden gemeldet, nachdem er einen Fernsehbeitrag über das Leben von Malloth in einem Altersheim bei München gesehen hatte. Er bezeugte, dass Malloth im September 1943 während der Blumenkohlernte mehrere Schüsse auf einen Gefangenen abgegeben hatte, der daraufhin zu Boden gefallen und zwischen den Stauden liegen geblieben war.
Der ursprünglich auf zwölf Wochen anberaumte Prozess dürfte nun schon wesentlich früher beendet werden. In der Vorwoche bereits wurde die Beweisaufnahme abgeschlossen, ein Urteil stand zu Redaktionsschluss für dieses EXTRA noch aus. Ehemaligen Opfern und deren Angehörigen geht es nicht um Rache, aber sie wollen den Angeklagten zur Rechenschaft für seine Taten gezogen sehen. Freilich mit einem Urteil, aber dieses könnte auch bloß ein symbolisches sein. Peter Finkelgruen etwa meinte: "Hätte ich zu richten, würde ich sagen: Lebenslänglich. - Und dann würde ich Malloth die Tür weisen."

Erschienen in "Wiener Zeitung", 25./26.5.2001