Der blutige Generationenwechsel in der Formel 1

Mit Sennas Tod am 1. Mai 1994 in Imola beginnt die Ära Schumacher

1994 war die zweite Formel-1-Saison in Folge, in der ein Rennbolide die Startnummer 0 trug. Wie Nigel Mansell im Jahr zuvor verzichtete nun auch Vierfach-Champion Alain Prost darauf, seinen Titel zu verteidigen. Insofern schien es für den einzigen Weltmeister im Fahrerfeld, den Brasilianer Ayrton Senna, ein leichtes, nach dieser Saison gleich viele Titel aufzuweisen wie sein französischer Ex-Erzrivale.
Gekommen war dann jedoch alles ganz anders. Zunächst einmal war da ein deutscher Jungspund namens Michael Schumacher rotzfrech in die Phalanx der Altvordern eingebrochen und hatte mit althergebrachten Sitten gnadenlos aufgeräumt. Nach zwei Saisonrennen stand das Match zwischen ihm und Senna 2:0, das Punkteverhältnis war aus Sicht des Brasilianers noch trister, nämlich 0:20. Damit lag er schlechter als Gerhard Berger, der in Aida Zweiter geworden war, auch schlechter als Karl Wendlinger, der beim Auftakt in Interlagos immerhin einen Punkt geholt hatte, und eigentlich sogar auch schlechter als Roland Ratzenberger. Der österreichische Formel-1-Neuling hatte zwar auch noch keinen Punkt auf seinem Konto, war aber mit seiner Simtek-Ford-Gurke in Aida immerhin ins Ziel gekommen. Senna hingegen hatte sich in Interlagos von der Piste gedreht und war in Aida bereits in der ersten Kurve von Mika Häkkinen von der Piste gerempelt worden.
In Imola, wo das dritte Saisonrennen gefahren wurde, sollten die Karten neu gemischt werden. Doch was die Wende bringen sollte, wurde zur Tragödie, zu einer doppelten dazu. Im Samstagstraining bricht an Ratzenbergers Wagen ausgangs der Tamburello bei 314,9 km/h ein Teil des linken Frontflügels. Unlenkbar geworden, kracht der Bolide in die Betonmauer. Der 31-jährige Salzburger erlitt einen Genickbruch, er war sofort tot.
Nach dem ersten Formel-1-Toten seit Ricardo Paletti 1982 wurden die Fahrer unruhig. Senna fuhr hinaus zur Unfallstelle, soll sogar überlegt haben, ob er am Sonntag überhaupt starten soll. Wenige Stunden vor dem Start beschließt er gemeinsam mit Schumacher und Michele Alboreto, die Fahrergewerkschaft GPDA (Grand Prix Drivers Association) zwecks vehementerer Durchsetzung von Sicherheitsvorkehrungen wieder ins Leben zu rufen.
Am frühen Nachmittag des 1. Mai 1994 wird das Rennen gestartet – und gleich wieder abgebrochen. Pedro Lamy war in den am Start stehen gebliebenen Benetton von JJ Lehto gedonnert. Neun Zuschauer wurden von den herumwirbelnden Trümmern verletzt.
Nach dem Neustart fliegen Senna und Schumacher dem Feld auf und davon. Was wie der Beginn einer zu glückenden Revanche scheint, endet für den Brasilianer tödlich. In der siebenten Runde bricht sein Williams-Renault eingangs der Tamburello aus, kracht mit über 200 Stundenkilometern in die Betonmauer, wird auf die Strecke zurückgeschleudert, rutscht quer zur Fahrtrichtung und schwer beschädigt zum Stillstand. Sid Watkins und sein Ärzteteam bemühen sich vergeblich. Ein Teil einer gebrochen Radaufhängung hat sich durch den Helm in Sennas Kopf gebohrt.
Niki Lauda meinte, der liebe Gott habe nun die Formel 1 verlassen. Und Gerhard Berger prägte einen Satz von metaphorischer Stärke, wie es nur jemand tun kann, der nicht akzeptiert, dass die Heroen im Mikrokosmos der Formel 1 sterbliche Wesen sind, sondern glaubt, Stars im wörtlichen Sinne zu sein: „Die Sonne ist vom Himmel gefallen.“ In Brasilien herrscht drei Tage Staatstrauer, der letzte Gang des Ayrton Senna da Silva wurde von mehreren TV-Stationen live übertragen und soll von 300.000 Menschen begleitet worden sein.
Nach langen Untersuchungen hatte man die Unfallsursache in der gebrochenen Lenksäule gefunden. In zwei Prozessen wurden Frank Williams und sein Team von der Anklage der fahrlässigen Tötung freigesprochen, nun soll der Senna-Prozess ein weiteres Mal aufgerollt werden. Vierzehn Tage nach Imola verunglückt Karl Wendlinger im freien Training zum GP von Monaco schwer. Nach Hirnprellung, Koma und langer Reha sitzt er nun wieder erfolgreich im Tourenwagen-Cockpit.
In der Rückschau war Sennas Tod der wohl brutalste Generationenwechsel, den es in der Formel 1 je gegeben hat. Mit Ausnahme von Senna hatten bis 1994 die ganz Großen mit dem Rennfahren bereits Schluss gemacht. Ein paar Alteingesessene wie Berger, Alesi, de Cesaris oder Alboreto standen dem Brasilianer im Abwehrkampf gegen die junge Garde zur Seite. Doch die Angriffe von Schumacher & Co. waren nicht mehr abzuwenden.
Die Tragödie von Imola schuf eine Situation, wie sie erst einmal – im Jahre 1959 – bestand: Das Feld war ohne Weltmeister. Um den freien Platz an der Sonne rauften Schumacher und Damon Hill bis zuletzt, ehe der Deutsche das Match mit einem Punkt Vorsprung für sich entschied. In jener Saison, in der die ultraerfolgreiche Ära des Kerpener Analytikers beginnt, ging jene des Helden der Herzen zu Ende. Die von seiner Schwester verwaltete Senna-Stiftung unterstützt heute Zehntausende Straßenkinder in Brasilien. „The Official Tribute to Ayrton Senna“ nennt sich jene 3-stündige Dokumentation mit Interviews und bisher unveröffentlichtem Bildmaterial, die nun als DVD erschienen ist.

Erschienen in DER STANDARD, 23.5.2004