Zwischen Parabolica und Tamburello
Gilles Villeneuve verdankt dem Deutschen Jochen Mass seine Unsterblichkeit
Dass der Tod die Schwelle ist, über die ein Sterblicher muss, um unsterblich zu werden, hat nichts mit dem christlichen Versprechen vom ewigen Leben, sondern mit der Tatsache zu tun, dass am allerliebsten über denjenigen gesprochen wird, der sich nicht mehr wehren kann. Den Toten also hält das Reden im Leben derer, die über ihn reden, wobei der schönste Moment der Übertritt von der Wahrheit zur Legende ist, die so lange eine solche bleibt, bis sich jemand einbildet, in die Verklärung wieder Klarheit bringen zu müssen und damit neue Legenden gründet.
Unter der Annahme, dass die Beschleunigungsspur der jüngeren Legendenbildung 1970 beginnt, als Jochen Rindt in der Parabolica verglühte, und 1994 endet, als Ayrton Senna in die Betonwand der Tamburello krachte, finden wir genau auf halber Distanz Zolder 1982, den 8. Mai. Im Abschlusstraining zum Großen Preis von Belgien geht der kanadische Haudrauf Gilles Villeneuve aufs Ganze, um Ferrari und seinem Teamkollegen Didier Pironi zu zeigen, wer hier das Sagen hat. Wer es wagen sollte, sich ihm in den Weg zu stellen, hat Pech gehabt. Der Pechvogel war Jochen Mass, der sein Training eigentlich schon beendet hatte und auf der Ideallinie ins Ziel bummelte. Als er im Rückspiegel Villeneuve heranbrausen sah, lenkte er seinen Wagen in jene Spur, für die sich auch der Kanadier entschieden hatte, um dem Deutschen auszuweichen. Das Missverständnis führte zur Kollision, Villeneuve wurde samt der Sitzschale aus dem Cockpit geschleudert, wenige Stunden später trug die gesamte Formel 1 Trauer.
"The Story finished, the Legend begins", teilt uns die Homepage mit. Was den ehemaligen Skimobil-Weltmeister zur Legende macht, sind nicht so sehr die zählbaren, sondern die noch möglich gewesenen Erfolge. Sechs Siege in fünf Jahren reißen niemanden so wirklich vom Hocker, aber seiner Bereitschaft, an und übers Limit zu gehen, hätte man mehr vergönnt. Sein Kämpferherz verursachte viel Schrott, aber Enzo Ferrari sah es ihm nach. In Maranello war nämlich nach 1979 der Wille zwar noch einigermaßen stark, aber das Auto schwach, also wurden die Rennfahrertugenden gepriesen, um nicht allzu viel über die Technik reden zu müssen. Es war gerade noch jene Zeit, als wenige Ausnahmekönner auch mit unterlegenem Material Siege erringen konnten, und Villeneuve war einer dieser wenigen. Sein ehemaliger Teamkollege Jody Scheckter meinte, dass er der schnellste Fahrer seiner Zeit gewesen sei, und Jacques Laffite mutmaßte: "Es gibt keine Wunder, aber bei Gilles bin ich mir nicht sicher."
Als in den Neunzigerjahren eine nicht nur sportlich, sondern auch biologisch neue Generation ins Lenkrad griff, wollten einige Söhne zeigen, dass sie können, was ihre Väter konnten. David und Gary Brabham scheiterten ebenso wie Michael Andretti klar, Damon Hill stieg 1996 auf jenen Thron, auf dem Papa Graham zuletzt 28 Jahre zuvor gesessen war, und Jacques Villeneuve vollendete 1997, woran sein Vater 1979 knapp gescheitert war und gab damit stellvertretend eine mögliche Antwort auf die auch zwanzig Jahre später virulente Frage: Was wäre aus Gilles noch alles geworden?
Erschienen in DER STANDARD, 8./9.5.2002