Mercedes unter einem Unstern
Am 11. Juni 1955 erlebte der Motorsport seine bislang größte Katastrophe
Le Mans drei Jahre vor der Katastrophe, gestand der legendäre Mercedes-Rennleiter Alfred Neubauer später einmal, sei ein Rennen gewesen, in dem ihm ausnahmsweise keiner seiner eigenen Fahrer am meisten imponiert hatte. Wohl hatte das Duo Hermann Lang/Fritz Riess nach 24 Stunden die Silberpfeil-Schnauze vorne, aber der Held des Rennens war der Franzose Pierre Levegh gewesen. 23 Stunden war der allein fahrende Bürstenfabrikant, der mit bürgerlichem Namen Pierre Bouillon hieß, mit seinem Talbot in Führung gelegen, ehe ihn ein Motorschaden eine Stunde vor dem Ziel aus dem Rennen warf. Als sich Neubauer 1952 den Namen des Franzosen mit dicken Lettern in sein Notizheftchen schrieb, ahnte er nicht, dass dabei schon der Tod die Feder führte.
Zwei Jahre vor Levegh war sein Landsmann Louis Rosier für einen ähnlichen geradezu übermenschlichen Kraftakt mit einem erfolgreichen Ende belohnt worden. Er gewann das Rennen 1950 mehr oder weniger als Alleinfahrer, gerade mal für zwei Runden durfte sein Sohn ans Steuer. 1953 war aber Schluß für die Langstrecken-Solisten, der Automobile Club de l’Ouest schrieb Fahrerwechsel in bestimmten Intervallen vor. Und 1955 war Mercedes für seine drei Teams auf der Suche nach einem sechsten Fahrer.
Das Nummer-Eins-Team bildeten ganz klar Fangio und Moss. Die beiden beherrschten auch die laufende Formel-1-Weltmeisterschaft und werden am Ende der Saison – der ersten vollen für Mercedes - einen Doppeltriumph feiern. Für den Argentinier wird es der dritte von insgesamt fünf Titeln sein und für den Briten, den berühmtesten Nicht-Weltmeister aller Zeiten, der erste Vize von sage und schreibe vier in Serie (danach wird er noch dreimal WM-Dritter). Auch das Team mit Karl Kling und dem Franzosen André Simon war nicht ohne, der Deutsche hatte 1952 die dritte Auflage der Carrera Panamericana Mexicana gewonnen. Aber für den Amerikaner John Fitch suchte Neubauer noch den Co. Er schlug in seinem Notizheftchen nach und fand – Levegh! Dieser tapfere und schnelle Franzose passte gut zur Mercedes-Equipe.
Rasch ein Telegramm nach Paris! Ein paar Tage später war Levegh in Stuttgart, drehte einige Testrunden und unterschrieb einen Fahrervertrag. Willkommen bei Mercedes!, streckte ihm Neubauer die Hand entgegen, und der Franzose schlug mit einem Tres bien! ein. Die nach Deutschland mitgereiste Madame Levegh, blond und eher still, freute sich mit ihrem Mann. Soviel wußte auch sie, daß Mercedes die absolute Top-Marke war und von Erfolg zu Erfolg eilte. Erst kurz zuvor hatten Moss und Fangio einen Doppelsieg bei den 1000 Meilen von Brescia gefeiert.
Für Levegh war ein großer Traum in Erfüllung gegangen an diesem wunderschönen, in jeder Hinsicht beglückenden Tag im Mai ’55. Ein Tag, von dem sich im Nachhinein nicht nur Neubauer wünschen wird, es hätte ihn nie gegeben.
11. Juni 1955. Über Le Mans strahlte die Sonne, Hunderttausende waren gekommen, um das Hochamt des Langstreckenrennsports zu zelebrieren. Wetten auf den Rennausgang wurden gesetzt, aber bei aller Spekulation war klar, dass der Weg zum Sieg nur über Jaguar oder Mercedes führen konnte.
16 Uhr. Sechzig Wagen standen in Reih und Glied schräg in Fahrtrichtung bereit zum Start. Conte Maggi senkte die Flagge, sechzig Fahrer liefen quer über die Fahrbahn zu ihren Wagen, sprangen in die Sitze, starteten die Motoren. Wildes Geheul begleitete die Le-Mans-Armada, solange das Feld noch so dicht beisammen war, wie das eben nur beim Start der Fall ist. Vorne weg der junge Brite Mike Hawthorn, dicht dahinter Juan Manuel Fangio, von Beginn an der erwartete Zweikampf Jaguar gegen Mercedes. Ein Duell zwischen dem 25jährigen Heißsporn und dem argentinischen Routinier. Wie im Vorjahr in Reims, als der Brite vor Fangio seinen ersten GP-Sieg eingefahren hatte.
Angeblich hatte sich Neubauer vor dem Rennen darüber beschwert, dass die Bahn vor den Boxen zu schmal sei und diese zu dicht nebeneinander lägen. Er hatte Sorge, die Fahrer könnten die Zeichen der Rennleiter übersehen und forderte einen Signalturm. Innerhalb der letzten drei Wochen hatte der Motorsport zwei Größen auf tragische Weise verloren. Doppel-Weltmeister Alberto Ascari war in Monza bei Testfahrten ums Leben gekommen, und der Amerikaner Bill Vukovich, Sohn serbischer Einwanderer, verunglückte auf der Jagd nach dem Indy-Hattrick tödlich. Das hätte doch für erste Ansätze in puncto Sicherheit sensibel machen müssen! Doch Le-Mans-Chef Charles Faroux, ein 81jähriger Greis, lehnte ab: Schließlich fahre man schon seit 1923 hier, und nicht erst seit gestern.
18 Uhr zwanzig, 36. Runde. Ein Pulk von fünf Wagen bog von „Maison Blanche“ in die Zielgerade ein. Nach dem Rechtsknick, der mit etwa 180 km/h gefahren wurde, beschleunigten die schnellsten Wagen auf der Geraden zu und vor den Boxen auf 230 Stundenkilometer. Als erster aus „Maison Blanche“ heraus kam der Jaguar von Hawthorn, der sich nach der eben erfolgten Überrundung von Macklin auf einem Austin-Healey vor seinem Landsmann wieder eingereiht hatte und nun etwa 600 Meter vor der Box für einen Stopp zu bremsen begann. Hinter Macklin der ebenfalls bereits überrundete Levegh, der Zweiplatzierte Fangio und Kling. Um an dem die Boxen anbremsenden Hawthorn-Jaguar vorbei zu kommen, scherte Macklin ziemlich abrupt nach links aus. Levegh, der mit seinem weitaus schnelleren Mercedes gerade im Begriffe war, Macklin zu überholen, rammte den Briten von hinten. Das lange, flache Heck des Austin wurde für den Mercedes zur Flugrampe, der bekam Auftrieb, flog durch die Luft und zerschellte an einem Begrenzungswall. Während der Austin von Macklin von einer Rennbahnseite zur anderen schlingerte und zwei Personen niedermähte, ehe er zum Stillstand kam, und Fangio und Kling unversehrt Richtung Dunlop-Kurve rasten, flogen Teile des Levegh-Mercedes und der explodierende Motor in die Tribünen und richteten unter den Zuschauern ein Massaker von noch nie dagewesenem Ausmaß an. 82 Menschen, unter ihnen der Unglückslenker, starben.
Es war die schlimmste Tragödie in der Geschichte des Motorrennsports.
Was heute undenkbar wäre, war damals nahezu selbstverständlich: Es wurde weitergefahren. „Lofty“ England überlegte nur kurz, die Jaguar aus dem Rennen zu nehmen. Einzig Mercedes zog – nach einer Weisung aus der Generaldirektion – seine Wagen um Mitternacht zurück. Mike Hawthorn gewann das Katastrophen-Rennen. Wenigstens gejubelt wurde, soviel man weiß, nicht.
Kommissionen untersuchten den Unfall, wirklich aufgeklärt wurde er nie. Auch nicht, warum der Unglückswagen explodiert war. Über den Unfallhergang entstanden zwei Theorien. Die eine belastet Hawthorn als Auslöser der Katastrophe, die andere gründet auf einer Kette unglücklicher Reaktionen. Erstere ist die gängigste und wurde unter anderem von Neubauer verbreitet.
Sein schlagendstes Argument: Die Überrundung Macklins durch Hawthorn ein paar hundert Meter vor den (nicht von der Rennbahn getrennten) Boxen war ein völlig sinnloses Manöver, da der führende Brite ohnehin gleich darauf bremsen und seinen Landsmann wieder vorbeilassen musste. Hawthorns Gewaltakt aber zwang Macklin, wollte er dem Jaguar nicht auffahren, zu einem radikalen Ausweichmanöver nach links, womit er die Spur des eben zum Überholen ansetzenden Levegh schnitt und der sich bereits anbahnenden Katastrophe den letzten Kick gab. Dass Hawthorn seinen Wagen erst 200 Meter nach der Jaguar-Box zum Stehen brachte, nährte die Spekulationen, der Brite habe das Boxensignal erst im letzten Moment erkannt und sei deswegen um so heftiger in die Bremsen gestiegen. Das war Wasser auf die Mühlen von Neubauer, der vor dem Rennen Ähnliches befürchtet und deswegen einen Signalturm gefordert hatte. Schon in den beiden Runden davor habe Hawthorn die Signale aus seiner Box übersehen!
Quatsch!, meinte der belgische Motorjournalist und gelegentliche Rennfahrer Paul Frère, der sich 1955 in Le Mans mit Peter Collins einen Aston Martin teilte. Bei Jaguar wurden die Boxensignale immer dreimal gezeigt: „IN 3 laps“, „IN 2 laps“, „IN“. Hawthorn habe also sehrwohl gewusst, dass er in der 36. Runde zum Tankstopp müsse. Die Überrundung Macklins erachte er nicht als Gewaltakt, denn Hawthorn hatte sich in einem Zweikampf mit Fangio befunden, der nur acht Sekunden hinter ihm gelegen war. Frère ist Begründer der zweiten Theorie, für die er sich auf Filmaufnahmen eines Zuschauers stützt, der den Unfall schwerst verletzt überlebt hatte.
Seiner Auffassung nach hatte sich Macklin in der Annahme, der soeben an ihm vorbeigezogene Hawthorn-Jaguar würde schnell in die Ferne entschwinden, mehr auf das Geschehen hinter sich konzentriert. Konnte er nach links gehen, um die Dunlop-Kurve nach den Boxen voll zu nehmen? Oder mußte er rechts bleiben und die beiden Mercedes von Levegh und Fangio passieren lassen? Der Blick in den Rückspiegel waren jene Sekundenbruchteile zuviel, die Macklin ein ruhiges Zurückrunden – mit dem wohl auch Hawthorn gerechnet hatte – unmöglich machten. Denn als Macklin wieder nach vorne sah, war er schon so dicht auf den bremsenden Jaguar aufgefahren, dass nur ein schnelles Manöver nach links einen Unfall mit dem Führenden verhindern konnte. Aber da kam bereits Levegh. Warum der nicht nach links ausgewichen war, obwohl Platz gewesen wäre, begründete Frère ebenfalls damit, dass auch der Franzose mehr mit den Vorgängen hinter sich beschäftigt war. Immerhin rückte sein Stallkollege Fangio näher, dem er im Kampf um den Sieg nicht im Weg sein wollte. Frères Rückspiegeltheorie klingt zwar obskur, aber möglicherweise führte am 11. Juni ’55 wirklich eine Synchronologie der Unachtsamkeit Regie.
Nach dem Unfall erließ die Schweiz das bis heute gültige Rennverbot, und Mercedes zog sich für lange Zeit vom Rundstreckenrennsport zurück. Hawthorn, der 1958 als erster Brite Weltmeister geworden war, konnte die ihm zugeschriebene Schuld an der Katastrophe nie verwinden. Die alte Rivalität zwischen Raubkatze und Stern keimte am 22. Jänner 1959 ein allerletztes Mal auf, als dem Jaguar-Fahrer Hawthorn ein privates „Hatzerl“ gegen Rob Walker auf Mercedes 300 SL in der Nähe von Guilford zum tödlichen Verhängnis wurde.
Erschienen in "Wiener Zeitung", 9./10.6.2000