Krieg und Spiele

22. Juni 1941 - Rapids Viertelstunde am Beginn der Nacht

Es war gerade erst Sommer geworden, und Deutschland wähnte sich am Beginn eines riesengroßen Beutezuges, an dessen Ende die Vorsehung ein Erntedankfest für Millionen von Herrenmenschen und die Verderbnis für noch mehr Millionen Untermenschen ausgemacht haben wollte. Tatsächlich aber hatte an diesem 22. Juni 1941, als drei Millionen Soldaten der deutschen Wehrmacht an einer Front von 3000 Kilometern Länge die sowjetische Grenze überschritten, die Nacht begonnen. Das "Unternehmen Barbarossa" wird in Ozeanen von Blut ersaufen und Quadratkilometer um Quadratkilometer von Leichen aneinander reihen, die die Erde des Ostens zu einem Massenfriedhof von zuvor nie geahntem Ausmaß verwandeln. Wenn der Mensch den Menschen niedergerungen haben wird, ist es zwar schon fast wieder Sommer, aber in die Überlebenden kriecht die Kälte der Verzweiflung, und für die Davongekommenen beginnt die Stunde bei null.
So weit aber ist es noch nicht. Ziemlich genau zwölf Stunden nachdem deutsche Soldaten unter der zynischen Parole von der Schaffung neuen Lebensraums im Osten in die Sowjetunion eingefallen waren, wurde im Berliner Olympiastadion um 15 Uhr ein Fußballspiel angepfiffen. Gewissermaßen ging es auch hierbei um die Eroberung des Ostens, aber eben nur gewissermaßen. Vor hunderttausend Zuschauern und unter dem Schutz von Flak-Batterien spielten die Wiener Rapid und die Gelsenkirchener Schalke 04 um den Titel des deutschen Fußballmeisters. Die Wurzeln beider Mannschaften sind ähnlich – hier der Arbeiterklub aus Ottakring, dort der Bergarbeiterverein aus dem Ruhrpott. Einander völlig entgegen gesetzt aber die Spielweise: Auf der einen Seite der phantasievoll und mit Wiener Schmäh geführte Ball, auf der anderen Seite modern-nüchternes Sicherheitsspiel.
Kurz nach dem Einmarsch hatte der Führer den Wienern ein Ländermatch geschenkt, um ihnen zumindest am grünen Rasen noch eine Eigenständigkeit vorzugaukeln. Aber bereits die Bezeichnung "Anschlussspiel" verriet auch im Sportlichen den Übergang zu jenen Verhältnissen, die politisch schon Realität waren. Lange vor Cordoba zeigte allerdings die "Wiener Schule" an diesem 3. April 1938 den Reichsdeutschen, dass ihr auf Disziplin und Effizienz ausgerichtetes Spiel mit der Leichtfüßigkeit der Schlamperei auszuscheiberln war – die Gäste, die sich so gern als Herren sahen, wurden mit 2:0 unter die Dusche geschickt. Reichssportführer von Tschammer und Osten soll ziemlich pikiert gewesen sein über den ausgelassenen Jubel der Wiener Spieler und Zuschauer. Die Wiener Presse versuchte tags darauf die Wogen zu glätten und meinte, dass die Kunst des heimischen den Ruhm des deutschen Fußballs mehren würde.
Aber hier wurde die Angelegenheit ziemlich vertrackt. Reichstrainer Sepp Herberger, der sein Nationalteam für die Weltmeisterschaft in Frankreich 1938 schon zusammengestellt hatte, wurde befohlen, aus der deutschen Mannschaft eine großdeutsche zu machen. Die Mentalitäten waren seinerzeit so unterschiedlich, wie sie heute sind, die Ostmärker den Reichsdeutschen ähnlich stark zugetan wie heute die Ösis den Piefkes und umgekehrt. Die "Wiener Melange mit preußischem Einschlag", wie es Herberger nannte, spielte gegen die vom Ex-Rapidler Karl Rappan trainierte Schweiz zunächst 1:1 und verlor das Retourspiel 2:4. Die sich da zu ruhmreichen Höhen aufschwingen wollten, landeten einen veritablen Bauchfleck, als Sündenböcke für die Blamage mussten die fünf Ostmärker im Team herhalten.
Was international mehr schlecht als recht eine Volksgemeinschaft repräsentieren sollte, konnte auf Klubbasis ungehemmt die Rivalität leben. 1938 putzte die Rapid den amtierenden deutschen Meister Hannover 96 mit 11:1, im Jahr darauf gewann sie den nach dem Reichssportführer benannten Tschammer-Pokal durch ein 3:1 gegen den FSV Frankfurt. Am 18. Juni 1939 setzte es für die Admira, die mit fünf Meistertiteln und zwei Cupsiegen die erfolgreichste Wiener Mannschaft der Dreißigerjahre war, im Meisterfinale gegen Schalke ein 0:9-Debakel. Als die angesagte Revanche in einem Freundschaftsspiel gegen die "Sportkameraden aus dem Kohlenpott" im November 1940 nur deswegen mit einem 1:1 endete, weil der Dresdener Schiedsrichter Schulz zwei reguläre Admira-Tore aberkannt hatte, waren die heimischen Fans im Wiener Stadion nicht mehr zu halten. Was im Zorn gegen den Referee begann, endete mit einer politischen Protestaktion. Die Scheiben des Schalkener Mannschaftsbusses wurden eingeschlagen, die Reifen am Auto des Reichsstatthalters Baldur von Schirach aufgeschlitzt und Polizisten verprügelt. Zahlreiche Personen wurden verhaftet und am nächsten Tag gewissermaßen die gesamten Ostmärker vom "Völkischen Beobachter" getadelt.
Die Grenze zwischen Sport und Politik war eine fließende, das Arrangement mit den Machthabern unumgänglich, das Lavieren ein schlaues, aber nicht allen mögliches Überlebensrezept. Während Rapid-Trainer Leopold Nitsch in die Partei eintrat und seine jungen Spieler dazu vergatterte, zur HJ zu gehen, damit "a Ruah is", hatten es andere schwerer. Der Präsident des zweifachen Mitropacup-Siegers Austria, Dr. Emanuel Michl Schwarz, hatte als Jude in diesem Land eben so keinen Platz mehr wie der Kapitän des Wunderteams, Walter Nausch, der mit seiner jüdischen Frau in die Schweiz exilierte. Zu einer Zeit, in der an den ursprünglichen Namen dieses Landes nichts mehr erinnern durfte und beispielsweise die Deutsche Reichspost im Telefonverkehr längst schon das Wort "Österreich" als Buchstabenbezeichnung für den Umlaut "Ö" durch "Öse" ersetzt hatte, benannte die neue Klubführung im Voraus eilenden Gehorsam Austria in Ostmark um – allerdings nur für ein halbes Jahr, dann kehrte man wieder zum traditionellen Namen zurück.

"Blitzkrieg" war eine neue Vokabel im täglichen Sprachgebrauch. Sie bezeichnete jene rasch auf einander folgenden Feldzüge, die binnen weniger Monate fast das gesamte Europa den braunen Horden unterworfen hatte. Im Berliner Olympiastadion stand es nach acht Minuten 2:0 für Schalke. Was die Generäle am Schlachtfeld vorpraktizierten, schien unter Eppenhoff & Co. eine harmlose Entsprechung am Fußballplatz zu finden. Von Tschammer und Osten ließ zur Pause feinsten französischen Champagner für die bevorstehende Siegesfeier einkühlen. Die Journalisten klopften bereits ihre Berichte vom "Ende des Wiener Kaffeehaus-Fußballs" in die Tasten ihrer Schreibmaschinen. Sie werden auch vier Monate später nach den großen Schlachten um Minsk und Kiew schreiben, dass Deutschland die "Sowjets niedergerungen" hätte und der "Feldzug im Osten entschieden" sei. Laut jüngst veröffentlichten Dokumenten hatte Stalin zu diesem Zeitpunkt mindestens zweimal die Bedingungen prüfen lassen, zu denen Deutschland zu einem Friedensschluss bereit sei. Das war ihm nach dem Krieg so peinlich, dass er seinen Unterhändler Suloblatow wegen Hochverrats anklagen und zu 15 Jahren Straflager verurteilen ließ.
Der Gedanke, sich mit einer erträglichen Niederlage aus der Affäre zu ziehen, war den Rapidlern fremd. Die Mannschaft war von jenem Geist beseelt, der heute noch bei aussichtslosem Spielstand von Sportreportern beschworen wird, damit – an guten Tagen - ein Mythos zur Wirklichkeit geraten möge. Früher einmal hatte die Rapid viele gute Tage gehabt, die nach ihr benannte Viertelstunde kommt nicht von ungefähr. Als Eppenhoff in der 58. Minute das 3:0 schoss, musste sich Schalke gefühlt haben wie das Deutsche Reich Ende 1941: Moskau vor der Einnahme, es schien nur mehr eine Frage der Zeit, bis die Kapitale des Todfeindes fiel. Die Journalisten im Olympiastadion lizitierten den Wortlaut ihrer Schlagzeilen nach oben: "Neues Debakel der Ostmärker" - Und Hunderttausend forderten im Überschwang der Erinnerung an das Finale vor zwei Jahren: "Neun zu null! Neun zu null!"
Die siegessichere Schalke und die fanatischen Zuschauer erlebten binnen 15 Minuten – es waren die vorletzten, nicht die letzten – ihr Stalingrad. Georg Schors verkürzte in der 61. Minute auf 1:3, und Franz "Bimbo" Binder drehte mit einem Hattrick das Ergebnis zu Gunsten der Wiener um. Die voreilig geschriebenen Zeitungsartikel landeten im Papierkübel, von Tschammer und Osten konnte sich seinen Champagner wieder einpacken. Die Rapid wird an diesem 22. Juni 1941 deutscher Fußballmeister und das 4:3 von Berlin zur Legende.

Eineinhalb Jahre später, im Februar 1943, erfährt das Kriegsgeschehen eine zunehmende Brutalisierung. Der Krieg wird zum totalen. Es ist schon längst die Zeit der Vergeltungen. Meistermacher und etwa 1000-facher Torschütze "Bimbo" Binder wird nie mehr in das deutsche Team, für das er neunmal gespielt hatte, einberufen, sondern war kurz nach der Meisterfeier an die Ostfront abkommandiert worden. Anderen prominenten Sportlern erging es ähnlich: Box-Europameister Poldi Steinbach etwa, oder dem Rad-Olympiasieger Toni Merkens. Was im Mikrokosmos der Nationalmannschaft gescheitert war, sollte nun als ein Volk für einen Führer um den Endsieg des einen Reiches kämpfen. Man ahnte schon 1943, dass das furchtbar daneben gehen würde. Den Dress gegen die Landseruniform gewechselt, hatten sie den menschenverachtenden Befehlen einer barbarischen Zeit zu gehorchen. Jedem brachte sie sein Schicksal. Binder eine Blinddarmentzündung und damit ins Lazarett, Steinbach und Merkens den Tod.
Zur Beschwichtigung wurde die Filmindustrie angekurbelt und um den Anschein der Normalität zu wahren, der Fußball im Spiel gehalten. Letzteres führte zu einer einigermaßen schizophrenen Situation, da einerseits die Wehrmacht nach allen wehrfähigen Kräften verlangte, andererseits gerade solche zur Aufrechterhaltung des Spielbetriebes zurück gehalten werden mussten. Die Zeit, in der Stationierung und Match auf einander abgestimmt werden konnten, war längst vorbei. Protektoren im eigentlichen Wortsinn erwirkten mühsam und trickreich Freistellungen und konnten die gute Tat, einige Spieler vor dem Frontdienst zu bewahren, insistierenden Fragen gegenüber damit rechtfertigen, sie im Sinne einer höheren Notwendigkeit gesetzt zu haben. Die Vienna wurde in dieser Zeit die Wiener Meisterschaft bestimmende Mannschaft, sie gewann sie zwischen 1942 und 1944 ohne Unterbrechung. Ein Jahr nach Rapid qualifizierte sie sich fürs Finale um die deutsche Meisterschaft, verlor aber gegen Schalke 0:2. 1943 holte sie sich den letztmalig veranstalteten Tschammer-Pokal mit einem 3:2-Sieg gegen den Luftwaffensportverein Hamburg.
Die Rote Armee war schon auf österreichischem Boden, als am 2. April 1945 das letzte Match im Dritten Reich gespielt wurde: Der Wiener Athletiker-Club schoss die Austria mit 6:0 aus dem Prater. Der Fußball hatte seine Funktion, von den Schreckensmeldungen des Krieges abzulenken, verloren und schlüpfte nun, als noch niemand wusste, wie es nach der Katastrophe weiter gehen würde, in die Rolle eines ballesternden Stimmungsmachers nach dem Motto: "Menschen samma alle". Das Arrangement mit den neuen Machthabern begann mit einem Fußballspiel. Am 1. Mai 1945 kickte ein Häuflein Wiener gegen eine Auswahl der Roten Armee. Ob es tatsächlich ein Freundschaftsspiel war, ist nicht überliefert. Aber es hatte eine Woche vor der bedingungslosen Gesamtkapitulation der deutschen Wehrmacht stattgefunden.

Erschienen in "Wiener Zeitung", 22./23.6.2001