Der Sportreporter als Entertainer

Zum Gedenken an Heribert Meisel, der aus der Übertragung eines Ländermatches ein Hörspiel machen konnte und am 31. Oktober 1966 starb

In einer Zeit, in der der Programmdirektor des österreichischen Hörfunks Alfons Übelhör hieß und in der Taubstummengasse residierte, die Grenze zwischen Realität und Satire also eine fließende war, konnten Reporter zu Typen reifen, die die Realsatire zum typisch Österreichischen erhoben und somit eine einzigartige Überlappung von himmelhoch jauchzender Glückseligkeit und zu Tode betrübter Verstimmung schufen, über die der Schmäh als entschärfende Letztinstanz thronte. Im Glücksfall also näherte sich die Reportage, und hier sei von der Sportreportage die Rede, dem Kabarettistischen an, war in jedem Fall aber beste Unterhaltung.
Der unangefochtene Meister dieses Metiers war zu jener Zeit Heribert Meisel. Er erachtete den Sport nicht nur als Objekt der Berichterstattung, sondern erkannte in ihm den Stoff für großes Entertainment. Damals, als der Rundfunkreporter in keiner komfortablen Übertragungskabine saß und – sagen wir - ein Fußballspiel noch nicht aus der Vogelperspektive überblickte, kommentierte Meisel direkt vom Spielfeldrand, auf Augenhöhe mit den Spielern, mittels eines Standmikrophons das Geschehen. Was heißt, kommentierte! Er lachte und weinte, lobte und schimpfte, jubelte und litt.
Zum Journalismus war Meisel, der am 15. Oktober 1920 in Baden bei Wien zur Welt kam, schon früh gestoßen. Während des Krieges schrieb er für eine Soldatenzeitung Theater- und Kulturkritiken, danach war er bei der wöchentlich erscheinenden „Salzkammergut-Zeitung“ Mitarbeiter der Sportredaktion. Das Interesse für dieses Ressort ergab sich zwangsläufig, war Meisel während seiner Jugend doch ein multitalentierter Sportler: Er spielte Fuß-, Hand- und Wasserball, Eishockey und Tischtennis, war ein guter Skiläufer und Schwimmer und gewann im Tennis sogar Jugend-Meisterschaften.
Zum Radio verschlug es ihn eher zufällig. 1947 hatte der „Sender Rot-Weiß-Rot“ für das Radrennen „Quer durch Österreich“ keinen Reporter zur Hand, also bot man dem 27-jährigen Meisel an, den Zieleinlauf in Linz zu kommentieren. Er erledigte diese Aufgabe ganz passabel, der Einstieg ins Rundfunkbusiness war geschafft. Und da ein Großer, wie er es später geworden war, seine Karriere mit Understatement erzählen können muss, ließ er diese in der Rückschau von jenem Radrennen an über die ARBÖ-Skimeisterschaften, den Linzer Faschingsumzug und einem Handballländerkampf zwischen Österreich und Ungarn langsam wachsen bis zum ersten von ihm live kommentierten Fußballländerspiel Tschechoslowakei gegen Österreich, das in Bratislava 1:3 verloren ging. Er trug sein Herz auf der Zunge, bejubelte die Tschechoslowaken, weil sie ihre Tore so schön herausspielten, und kassierte hintennach eine Menge wenig schmeichelhafter Briefe und Telefonanrufe von erbosten Österreichern. Im Frühjahr 1949 richtete er seinen Hörern während des inferioren Ländermatches gegen die Türkei, das in Wien mit Müh’ und Not durch ein Freistoßtor von Karl Decker 1:0 gewonnen wurde, aus: „Es ist zum Verzweifeln, wie diese beiden Mannschaften spielen. Fast könnt’ man sagen wie ‚Shell’ gegen ‚Apollo’ (Anm.: zwei unterklassige Vereine). Sind’S froh, dass Sie zu Hause geblieben sind, Sie brauchen mir nicht zuzuhören und können abdrehen, wenn Sie wollen; ich hingegen muss mir das Spiel anschauen und auch noch darüber reden.“
Er schaute hin und redete darüber, er schaute dahinter und analysierte, er schaute darunter und sprach aus, wenn ihm etwas gar nicht gefiel. Und das alles ohne Zeigefinger und Penetranz, sondern mit der Leichtigkeit des Wiener Charmes und der Wortgewalt des lokalen Idioms. Diese Art der Hörfunkreportage erregte bald auch in Deutschland Aufsehen. Denn am Tag nach dem eher überraschenden 2:0-Sieg der Herberger-Elf über die Österreicher am 23. September 1951 im Wiener Praterstadion war der in den deutschen Zeitungen gefeierte Held des Länderspiels nicht etwa die eigene Mannschaft, sondern Heribert Meisel. Dieser hatte die fast unlösbare Aufgabe übernommen, das Match sowohl für den österreichischen Rundfunk als auch für deutsche Sender zu kommentieren. Aufgerieben vom Widerspruch, einen österreichischen Sieg reportieren zu wollen, aber der deutschen Mannschaft Hochachtung zollen zu müssen, konnte der Radiohörer den Mann geradezu vor sich sehen, wie er sich die Haare raufte, den längst schon abgenommenen Hut verzweifelt zwischen seinen Händen zerknautschte, diesen schließlich zu Boden warf und auf selbigem verzweifelt herumtrampelte: „Ich bin zwar ein Verräter meines Stammes, ich bin ja ein Wiener, aber ich spiele die Rolle des Verräters bis zum bitteren Ende.“
Für die deutschen Zuhörer war Meisels Art der Sportübertragung jenseits von allem, was sie bisher gehört hatten. Ganz anders als die Sprechweise der ihnen vertrauten Reporter, die steif und hölzern mit dem engen Sprachbereich zwischen Beamtendeutsch und Kriegsberichterstattung das Auslangen fanden. Jubelschreiben, die nach Meisel-Übertragungen waschkorbweise in die Redaktion gekommen sein sollen, und begeisterte Telefonanrufe waren ein deutliches Indiz, dass der Wiener, der als Gastredner für verschiedene deutsche Sender arbeitete, rasch zum Publikumsliebling geworden war. 1963 moderierte er sogar das erste ZDF-Sportstudio
Wiewohl Meisel über zahlreiche Sportarten berichtete, Bücher schrieb, mehrere Filme über sportliche Großereignisse drehte („Menschen, Meter und Sekunden“ über die Leichtathletik-EM 1958 in Stockholm; „Menschen, Hoffnungen, Medaillen“ über die Olympischen Winterspiele 1960 in Squaw Valley;) und von zahllosen Sportlern verschiedenster Sparten Stärken und Schwächen, Herkunft und Beruf, Rekorde und Versager kannte, sind in der allgemeinen Erinnerung wohl die Fußballübertragungen am stärksten präsent. Und wem die Erinnerung nicht aus eigener Erfahrung blieb – wie dem Autor dieser Zeilen -, dem wurde sie durch Erzählungen der Altvordern imaginiert.
So soll es einmal eine Zeit gegeben haben, in der die Fußballmannschaften von Österreich und Ungarn zu den besten der Welt gezählt haben, wobei die österreichische nur geringfügig schlechter als die ungarische gewesen sein soll, die schlechtere jedoch die bessere im Oktober 1961 sensationell 2:1 besiegte, was nicht nur für die Zuschauer, sondern auch für Meisel ein Fest bedeutete und nach dem Schlusspfiff noch völlig außer sich Freude bekennen ließ: „Verzeihen Sie meine Nervosität, aber da müsste man ja ein Muli sein, wenn man sich hier nicht aufregt.“ Muli? Egal, man wusste, was gemeint war, und das genügte. Im März 1965 jubelte er abermals über ein historisches 2:1. Österreich hatte nach zwanzig Jahren wieder die Franzosen besiegt – und das noch dazu in Paris.
Freilich berichtete er auch von Niederlagen. Von solchen, die als ausgleichende Gerechtigkeit eingestuft wurden, wie das 0:3 gegen Ungarn in Budapest 1965, und anderen, die man als Schmach empfand, wie das 1:6 gegen Deutschland im WM-Semifinale 1954. Nicht zuletzt aufgrund ihrer historischen Dimension förderten sie Meisels Ruf als leidenden und trauernden, manchmal auch sarkastischen Reporter. Im Halbfinale gegen Deutschland, als alles daneben ging, was daneben gehen konnte, verdeutlichte er die Ohnmacht der Österreicher gegenüber der Dominanz des Gegners anhand zweier Spieler: „Der Probst ist ja bei Liebrich so was von aufgehoben, als wäre er ein Wickelkind und der Liebrich seine Mutter.“ Ein Satz, den Regisseur Sönke Wortmann noch fünfzig Jahre später im O-Ton in seinem Spielfilm „Das Wunder von Bern“ verwendete.
In Meisels letztem Lebensjahr ließ ihn das Schicksal noch große heimische Sporterfolge miterleben: Hans Furian gewann 1965 überraschend die Österreich-Radrundfahrt. Karl Schranz entschied 1966 in Kitzbühel die Kombination für sich, was ihn zum „echten“ Hahnenkammsieger erhöhte. Und dann war da natürlich Wembley gewesen, der 20. Oktober 1965.
An jenem Tag gelang der österreichischen Fußballnationalmannschaft, was vor ihr erst Ungarn und Schweden geschafft hatten: England auf der Insel zu besiegen. Gleich dreimal bot sich für Meisel die Gelegenheit, sein lang gezogenes, mehrmals wiederholtes Tooor! ins Mikrofon zu brüllen. Toni Fritsch begründete auf seinen zwei erzielten Toren die Verwirklichung des amerikanischen Traums und lebenslangen Ruhm. Für Österreich bedeutete der 3:2-Sieg eine fußballerische Heldentat, die im Nebel der Legenden wahrscheinlich über der mit dem gleichen Resultat versehenen Sensation von Cordoba zu stellen ist. Heribert Meisel jedoch hatte an jenem Tag vor dem Mikrofon das letzte Mal über ein österreichisches Tor gejubelt. Am 31. Oktober 1966 starb er, kurz nach seinem 46. Geburtstag, an den Folgen einer schweren Krankheit.

Erschienen in "Wiener Zeitung", 28./29.10.2006