Bankrotteur und Samariter

Kriegsgräuel ließen den Geschäftsmann Henry Dunant das "Rote Kreuz" gründen

Der junge Mann war seinen Aktionären im Wort. Zehn Prozent Rendite hatte er ihnen versprochen, wenn sie sich an seiner Mühlengesellschaft, der er als Präsident vorstand, beteiligten. In der algerischen Wüste, nahe den Ruinen von Mons-Djémila, sollten Land fruchtbar gemacht, Weizen angebaut und so die ehemalige Kornkammer des Römischen Reichs wieder zum Erblühen gebracht werden. Das schien auch Genfer Spekulanten und Bankiers, die in der allgemeinen wirtschaftlichen Expansion zu Mitte des 19. Jahrhunderts immense Summen in Projekte in Frankreich und seinen nordafrikanischen Kolonien investierten, eine einträgliche Sache zu sein. Es war nicht schwer, für die "Société financière et industrielle des Moulins des Mons-Djémila" Geldgeber zu finden, sie vertrauten ihre Einlagen dem Spross einer angesehenen Genfer Familie an.
Die Dunants verkörperten eine Mischung aus Macht und Geist. Jean-Jacques Dunant war Ratsherr zu Genf und Mitglied der Vormundschaftskammer, seine Frau Nancy die Schwester des berühmten Physikers Jean-Daniel Colladon, der im Genfer See mittels Signalglocke und Taschenuhr bereits 1828 annähernd exakt die Schallgeschwindigkeit gemessen hatte. Sohn Henry war 26 Jahre alt, als er sich nach einer Ausbildung zum Bankier 1854 gemeinsam mit Heinrich Nick, einem jungen Wirtschaftsberater aus Württemberg, selbständig machte. Abenteuerlust und die Aussicht auf schnelles Geld verleiteten die beiden, Hals über Kopf in die Untiefen des Unternehmertums springen. Voreilig und in blindem Vertrauen auf einen positiven Bescheid der französischen Kolonialbehörde ließ Dunant eine hoch moderne Mühle errichten. Als die beiden Jungunternehmer im August 1854 über die Landzuteilung in Kenntnis gesetzt wurden, musste sie beinahe der Schlag getroffen haben: Statt der beantragten 1000 Hektar wurden ihnen gerade mal sieben Hektar und ein Wasserfall zugestanden, womit die hohen Investitionen niemals zu amortisieren waren. Hektische Verhandlungen um mehr Land setzten ein, scheiterten aber an bürokratischen Hemmnissen. Der Schweizerisch-französische Doppelstaatsbürger Dunant meldete gar einen französischen Wohnsitz in der Hoffnung, dadurch sein Anliegen bei der Kolonialbehörde schneller vorantreiben zu können. Als 1858 noch immer kein Erfolg in Sicht war, wandelte Dunant das Unternehmen in eine Aktiengesellschaft um, setzte Nick als Geschäftsführer vor Ort in Algier ein, während er selbst das Unternehmen in Genf vertrat.
Was als eine ertragreiche Anlagemöglichkeit präsentiert wurde, war in Wahrheit die Hasardaktion zweier Geschäftsleute zur Rettung ihres Unternehmens. Durch die Umstrukturierung waren sehr rasch eine Million Franken in die Kassa gekommen, die vorerst die Weiterexistenz der Firma garantierten. Sehr wahrscheinlich, dass Dunant darauf vertraute, als Präsident einer Aktiengesellschaft seinem Ansuchen um mehr Land stärkeren Nachdruck verleihen zu können, um die Geschäfte rasch aufzunehmen und seine Geldgeber zu befriedigen. Doch er hatte bloß eine Atempause auf Kredit erhalten.

Im Frühsommer 1859 wollte Dunant von Kaiser Napolen III. persönlich ein Machtwort gegenüber den säumigen Kolonialbehörden erlangen. Er reiste dafür nach Oberitalien, wo sich französische Soldaten und das sardische Heer für eine drohende Auseinandersetzung um die Lombardei gegen Österreich verbündet hatten. Im Reisegepäck hatte er ein frisch gedrucktes, fast unerträglich schmeichlerisch von ihm selbst verfasstes Buch, das den Kaiser gnädig stimmen sollte: "Das wiederhergestellte Reich Karls des Großen oder das Heilige Römische Reich erneuert durch Seine Majestät Napoleon III." Dunant sollte das Gastgeschenk für seinen ursprünglichen Zweck jedoch nicht mehr benötigen.
Ein Zufall, das Scharmützel zweier feindlicher Vorhuten, löste mitten in der Nacht einen der grausamsten Kämpfe der Geschichte aus. Als Dunant am Abend des 24. Juni 1859 in Castiglione ankam, war die Schlacht von Solferino bereits geschlagen. Es war ein verheerendes Gemetzel gewesen, das innerhalb von nur fünfzehn Stunden fast 40.000 Soldaten den Tod gebracht hatte. Napoleon ließ sich als Sieger feiern, aber seine Verluste waren fast ebenso hoch wie die der unterlegenen Österreicher.
Allein in Castiglione lagen 9000 Verwundete. Das Grollen eines Sommergewitters vermischte sich mit schmerzerfülltem Gekreische, wundfiebriger Unruhe und dem letzten Aufbäumen im Todeskampf. Sanitäter, die Verletzte auf Karren abtransportierten, waren in der Minderheit gegenüber den zahlreichen Plünderern, die in der Habe der wehrlosen Opfer Geld bringendes Erntegut sahen. Spontan organisierte Dunant Hilfsdienste für die Verwundeten.
"Sono tutti fratelli!", rief er Einheimischen und Durchreisenden zu und forderte sie zur Nothilfe auf - das Grauen des Krieges machte Freund und Feind zu gleich zu behandelnden Brüdern. "Ich sehe in einer halben Stunde 200 Amputierte. Man hört nichts als Klagen und Schreien", schrieb ein prominenter Helfer, der Schokoladefabrikant Philipp Suchard, in einem Brief an seine Familie. In Cavriana suchte Dunant Napoleon auf, tauschte seine Lobesschrift nicht gegen Gebietszusagen, sondern gegen das Versprechen, die gefangenen österreichischen Ärzte für Pflegedienste frei zu lassen. Am 9. Juli 1859 erschien im "Journal de Genève" Dunants Aufruf zur Sammlung von Verbandsmaterial und sauberer Wäsche. Unermüdlich versorgte der junge Geschäftsmann die Verletzten, trieb andere zur Mitarbeit an, so, wie es Florence Nightingale auf der Krim davor getan hat und Clara Barton im amerikanischen Sezessionskrieg danach tun wird. Im Schreckensbild der Katastrophe hatte er das eigentliche Ziel seiner Reise aus den Augen verloren.

In einem "Memorandum über die Gesellschaft der Mühlen von Mons-Djémila" beruhigte er seine Aktionäre. Eine Geschäftsausweitung stehe bevor, er bitte um Geduld - das Memorandum schien wie eine lästige formale Pflicht. In Dunants Leben hatten sich die Wertigkeiten verschoben. Der monetäre Ertrag eines Geschäfts trat in den Hintergrund zu Gunsten einer humanitären Vision, die aus den Schrecklichkeiten des Krieges entstand. Auf eigene Kosten veröffentlichte er seine Mahnschrift "Eine Erinnerung an Solferino", die er an einflussreiche Persönlichkeiten verschickte. Presse, Dichter, Philosophen, Ärzte, Geistliche und sogar Fürstenhöfe, Regierungen und Generäle gratulierten ihm. Dunant stand unversehens im Mittelpunkt der Ton angebenden Kreise Europas.
Zu Beginn des Jahres 1863 lernte Dunant den Präsidenten der Genfer Gemeinnützigen Gesellschaft, Gustave Moynier, kennen. Eine Bekanntschaft, die viel versprechend schien. Man wählte Dunant neben Moynier und General Dufour sowie den beiden Ärzten Dr. Louis Appia und Dr. Théodore Maunoir als Sekretär in den fünfköpfigen Vorstand des "Internationalen Komitees der Hilfe für verwundete Militärpersonen", Vorbereitungen für einen noch im selben Jahr abzuhaltenden Kongress in Genf traf. Der meisterhafte Organisator Moynier hatte erkannt, dass Dunants großartiger Idee von der Verwundetenhilfe nur dann Erfolg beschieden ist, wenn sie in Paragrafen verfestigt und von der Verbindlichkeit der Unterschrift gesichert wird. Er schickte seinen Sekretär auf Werbetour durch halb Europa, der durch persönliche Vorsprachen Teilnahmezusagen für den Kongress erwirken sollte.
Ein Gedankenblitz, ein sinnvoller Vorschlag verursachte einen ersten großen Sprung in der Beziehung Dunants zu Moynier. Dunant griff die Anregung des niederländischen Arztes Dr. Basting auf, den Sanitätern den Status der Neutralität vertraglich zuzusichern, und versandte - im guten Glauben und ohne Rücksprache mit seinen Vorstandskollegen - einen "Nachtrag zur Einladung für die Konferenz von Genf". Diese Eigenmächtigkeit nutzte Moynier, um Dunant, dessen erfolgreiche Auftritte in Europa er voll Eifersucht verfolgt hatte, los zu werden. Er degradierte ihn zum Schriftführer, was den Ausschluss Dunants aus dem Vorstand zur Folge hatte.
36 Vertreter aus 16 europäischen Staaten fanden sich im Oktober 1863 zum ersten Genfer Kongress im Palais de l'Athénée ein. Sie verabschiedeten zehn Resoultionen, die unter anderem die Schaffung von Hilfskomitees in jedem Land vorsahen und den Sanitätern und Verwundeten Angriffsverschonung zusicherten. Als Erkennungsmerkmal im Feld sowie als Symbol der Neutralität sollte die gegengleiche Farbgebung der Schweizer Flagge gelten: das rote Kreuz auf weißem Grund. Im Krieg der Preußen und Österreicher gegen Dänemark im Februar 1864 standen erstmals Sanitäter mit Rot-Kreuz-Armbinden im Einsatz. Danach war die bis dahin heftig diskutierte Frage über die Neutralität der Sanitäter, an der sich vor allem die Franzosen stießen, vom Tisch.
Als sich die Vertreter von zwölf Staaten abermals trafen, um am 22. August 1864 die Genfer Konvention zu ratifizieren, war Dunant, der im Vorfeld maßgeblich am Zustandekommen des Kongresses beigetragen hatte, nicht mehr Mitglied des Internationalen Komitees. Der Auseinandersetzungen mit Moynier überdrüssig, war er im Mai zurückgetreten. Während des Kongresses organisierte er festliche Empfänge. Der Ideenspender, die eigentliche Zentralfigur dieser internationalen Großveranstaltung war bloß noch für das Rahmenprogramm zuständig – und bezahlte es aus eigener Tasche. Für einen letzten gemeinsamen Auftritt blieb zwischen den Kontrahenten der Schein der Freundschaft gewahrt, als Dunant und Moynier anlässlich der Pariser Weltausstellung 1867 für ihre Verdienste um die Menschheit mit einer Medaille in Gold ausgezeichnet wurden.
Kurz darauf ging Dunants Unternehmen in Algerien in Konkurs. Das Getöse des Bankrotts schreckte Öffentlichkeit wie feine Gesellschaft gleichermaßen hoch – der Gründer des Roten Kreuzes ein Hochstapler? Dass Dufour und vor allem Moynier zu seinen Geldgebern gehörten, machte Dunants weiteren Aufenthalt in Genf unmöglich. Mit Schimpf und Schande wurde er aus der Stadt verjagt – er kehrte auch nicht zurück, als seine Mutter im Sterben lag. Schwer trug er an der Schuld seines wirtschaftlichen Unvermögens, das seine Familie und seine Genfer Freunde nahezu in den Ruin getrieben hat, und an den Schulden von einer Million Franken. Die von ihm ins Leben gerufene Organisation hatte um diese Zeit Großeinsätze – Königgrätz 1866, der deutsch-französische Krieg 1870/71.
Eine Zeit lang schaffte es Dunant, seinem schlechten Ruf, den seine Widersacher bald überall verbreiteten, voraus zu sein und sich mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser zu halten. Bis in die Mitte der Siebziger Jahre bemühte er sich, andere Projekte voran zu treiben. Er regte die Gründung einer internationalen Universalbibliothek an, in der er nicht in erster Linie den archivarischen Nutzen, sondern eine Möglichkeit zur Völkerverständigung sah. 1873 stellte er in Paris sein Programm der "Allgemeinen Allianz für Ordnung und Zivilisation" vor, das die 75 Jahre später vereinbarte internationale Konvention der Menschenrechte in ihren Grundzügen bereits vorweg nahm. 1875 organisierte die Allianz in London eine Konferenz zur Abschaffung der Sklaverei.

Dunants Spur verliert sich. Der einst gefeierte Samariter war nach seinem Bankrott tief gefallen. Er war obdachlos, trug schlechte Kleidung, verbrachte die Nächte auf Parkbänken oder in Massenschlafsälen. Dort, wohin ihn seine Mutter als Kind bei ihren Wohltätigkeitsgängen mitgenommen hatte, war er nun selbst gelandet. In der Gosse, wo er als junger Mann und rühriges Mitglied der internationalen YMCA (Young Men Christian Association) das Evangelium verkünden wollte, stand ihm nun kein Gott zur Seite. Ein Onkel unterstützte ihn mit einer monatlichen Rente von 100 Franken. Die zarten Bande zu einer wohlhabenden Witwe, die ihm als vielleicht Einzige in dieser schweren Zeit freundschaftlichen Beistand geleistet hatte, zerschnitten böse Intrigen. Das Angebot Napoleons III., die Hälfte seiner Schulden zu übernehmen, erreichte ihn nicht. Moynier ließ das Gerücht verbreiten, Dunant sei verstorben
Doch 1895 ein Zeitungsartikel wie ein Paukenschlag: Der Sankt Gallener Journalist Georg Baumberger hatte Dunant in Heiden ausfindig gemacht. Dort, hoch über dem Bodensee, bewohnte er seit drei Jahren ein Zimmer im örtlichen Krankenhaus. Jener Mann, der so viel für die Menschheit getan hat, lebt in Bettel und Armut, angewiesen auf Almosen. Welch Schande! Will man denn zusehen, wie ein großartiger Wohltäter als kränkelnder Greis vor die Hunde geht! Der Bericht löste eine Welle der Sympathie und Ehrungen aus. Die Witwe des russischen Zaren, Maria Feodorowna, stiftete eine lebenslange Rente von 4000 Franken, am XII. Kongress der russischen Ärzte wurde ihm der Prix de Moscou und damit ein Geldbetrag von 5000 Franken zugesprochen. Und 1897 die Rehabilitation: Der Schweizer Bundesrat verlieh ihm den Binet-Preis und nannte ihn ausdrücklich "Gründer des Roten Kreuzes und Initiant der Genfer Konvention".
Schon im Jahr davor, 1896, hatte ihn die österreichische Pazifistin Bertha von Suttner in Heiden aufgesucht und ihm das Versprechen abgenommen, Artikel für ihre Zeitschrift "Die Waffen nieder" zu liefern. Es war jenes Jahr, in dem von Suttners großer Verehrer gestorben war; bei dem sie sehr viel früher einmal für bloß eine einzige Woche als Sekretärin gearbeitet hatte, ehe sie die Liebe nach Wien zurück trieb; mit dem sie zeitlebens eine Freundschaft verband, obwohl er von ihrer Pazifismusbewegung nichts hielt, weil er auf die Frieden stiftende Wirkung der Abschreckung setzte. Er glaubte an die Vernunft des Menschen und daran, dass ihn die Vernichtungskraft des Dynamits von jeder weiteren Kriegshandlung abhalten werde. Aus Enttäuschung, so sagt man, habe Alfred Nobel Preise für jene gestiftet, die "im verflossenen Jahr der Menschheit den größten Nutzen geleistet haben".
An seinem fünften Todestag, dem 10. Dezember 1901, wurde der erste Friedensnobelpreis vergeben. Dunants Nominierung für den Friedenspreis war umstritten. Der Sanitätsdienst im Feld, so die Argumentation einiger Juroren, nehme dem Krieg den Schrecken und ermutige Staatsführer und Generäle geradezu, eben einen solchen auszulösen. Schließlich einigte man sich darauf, den Preis zu gleichen Teilen an Henry Dunant und Frédéric Passy, dem Gründer der deutsch-französischen Friedensliga, zu vergeben. Dunant hatte die Preissumme von etwas mehr als 100.000 Franken in Oslo nie abgeholt. Die Angst vor seinen Gläubigern, die er im Falle einer Preisannahme wie Geier über das Geld herfallen sah, war stets präsent.
Das neue Jahrhundert schritt voran. Dunant sah, dass seine Organisation umfassender wurde. Sie war seit 1907 neben den Soldaten im Felde auch für die Seeleute zuständig und konnte im zivilen Bereich der Krankenhilfe, den Unfall- und Katastropheneinsätzen Fuß fassen. Er freute sich, dass eine von ihm gezündete Initiative zur Besserstellung der Frauen in Belgien aufgenommen und seine Idee vom Grünen Kreuz verwirklicht wurde. Gleichzeitig quälten ihn dunkle Vorahnungen. Schließlich füllten Aufsätze und Notizen 17 großformatige Hefte über "Die blutige Zukunft" des 20. Jahrhunderts. Bis zuletzt verfolgte ihn der Schatten des Gustave Moynier. Er war fast achtzig, als ihn sein Widersacher in einem Buch einmal noch schmähte. Am 30. Oktober 1910 starb Dunant im Alter von 82 Jahren. Er hatte Moynier um zehn Wochen überlebt.

Erschienen in "Wiener Zeitung", 14./15.12.2001