Pionierin der Sozialpolitik

Grete Rehor war Österreichs erste Frau in einem Ministeramt. Die Sozialreformen der ÖVP-Politikerin prägten das Land nachhaltig. Sie selbst ist heute nahezu vergessen.

Als Grete Daurer im Alter von 14 Jahren Beschäftigung in einer Textilfabrik fand, hatten sie die Zeitläufte und soziale Not bereits schmerzhaft und nachhaltig geprägt. Am 30. Juni 1910 als zweites von drei Kindern geboren, wuchs sie als Tochter des k. u. k. Beamten Karl Daurer und dessen Frau Anna, einer diplomierten Krankenschwester, zunächst in der Geborgenheit einer bürgerlichen Wiener Familie auf. Der 1. Weltkrieg jedoch machte sie zur Halbwaise und die Not der Nachkriegszeit ihren Wunsch, Lehrerin zu werden, zunichte. Von dem kargen Lohn als Textilarbeiterin zweigte sie sich das Schulgeld für die Handelsschule ab. Initiiert wohl vom eigenen Schicksal, besuchte sie sozialpolitische Abendkurse, in denen sie das theoretische Unterfutter für ihren ausgeprägten Willen zu helfen und das geistige Rüstzeug für ihre spätere gewerkschaftliche und politische Tätigkeit erwarb.
Nach Abschluss der Handelsschule fand sie eine Anstellung im Sekretariat des Zentralverbands der christlichen Textilarbeiter Österreichs, womit sie – gerade erst 17 Jahre alt - ihren ersten Schritt zur Arbeitnehmervertreterin tat. Ein Jahr später, 1928, vertrat sie als erste Frau im Jugendbeirat der Arbeiterkammer Wien die Interessen ihrer Generation und hatte maßgeblichen Einfluss in den Aktionen „Jugend am Werk“, „Jugend in Arbeit“ und „Jugend in Not“. Gemeinsam mit dem späteren Bundeskanzler Josef Klaus leitete sie die Jugendbewegung „Junge Front im Arbeitsbund“. Als Angehörige des so genannten bürgerlichen Lagers blieb sie in ihrer Tätigkeit von den innenpolitischen Wirren der Dreißigerjahre weit gehend verschont.
Ihr privates Glück jedoch, das ihr 1935 mit der Heirat des christlichen Gewerkschafters Karl Rehor und der Gründung eines gemeinsamen Hausstandes in der Siedlung Starchant beschieden schien, war nur von kurzer Dauer. Das Jahr 1938 brachte nicht nur politische Umwälzungen. Einige Wochen bevor Tochter Marielies zur Welt kam, wurde Karl Rehor von den Nazis verhaftet und später an die Ostfront abkommandiert. Von dort kehrte er nicht mehr zurück. Nach dem Vater hatte ihr nun ein weiterer großer Krieg auch den Mann genommen.
Als in einigen Bezirken Wiens noch die Maschinengewehre ratterten und aus dem Wienerwald der Kanonendonner zu vernehmen war, trafen sich am 13. April 1945 Gewerkschafter in den Ruinen des Wiener Westbahnhofs. Es waren Männer, die harte Erfahrungen, aber auch Mut, Initiative und einen festen Glauben an die Zukunft mitbrachten. Die zukünftige Gewerkschaftspolitik, die damals in ihren Grundzügen festgelegt wurde, sollte wohl eine gestaltende und stabilisierende Rolle im Wiederaufbau wahrnehmen, gleichzeitig aber ihre Unabhängigkeit von Regierung, Unternehmen und Parteien wahren.
In diesem männerdominierten Gefüge behauptete Grete Rehor weiterhin und souverän ihren Platz. Zunächst als Fachgruppensekretärin der Weber in der Gewerkschaft der Textil-, Bekleidungs- und Lohnarbeiter, ab 1948 als stellvertretende Vorsitzende und FCG-Bundesvorsitzende dieser Fachgewerkschaft. In einer Zeit, in der viele Betriebe nur schlecht erreichbar waren, manche von ihnen unter der Führung der Besatzungsmächte standen, Zonengrenzen zu überwinden waren, der Ausbau des öffentlichen Verkehrs erst am Anfang stand und von Individualmotorisierung keine Rede sein konnte, scheute Rehor keine Mühen, um mit ihren Gewerkschaftern in Kontakt zu bleiben. Körperlich von zierlicher Gestalt, aber mit ungeheurer Energie und einem wachen Geist ausgestattet, brachten ihr bereits die ersten Lohn- und Tarifverhandlungen neben dem erfolgreichen Abschluss auch den Respekt der Verhandlungspartner ein. Sie erreichte höhere Stundensätze für die Heimarbeiterinnen, eine klare Arbeitszeitregelung für die Hausgehilfinnen und einheitliche Ausbildungsbestimmungen für Krankenschwestern. 1949 zog sie für die ÖVP in den Nationalrat ein, 1957 gründete sie mit dem Frauenreferat des Österreichischen Arbeiter- und Angestelltenbundes (ÖAAB) eine Plattform, von der aus Frauen Unterstützung und Motivation für ihre politische Tätigkeit erhielten.
Als die ÖVP nach ihrem Sieg bei den Nationalratswahlen am 6. März 1966 die erste Alleinregierung der 2. Republik bildete, wurden bei der Besetzung des Sozialministers alte Bande, die mehr als dreißig Jahre zuvor zwischen Josef Klaus und Grete Rehor geknüpft worden waren, neu verknotet. Erstmals wurde in Österreich eine Frau auf einen Ministerposten berufen. Bei der Präsentation seines Kabinetts gab der neue Bundeskanzler eine prägnante Beschreibung von seiner Sozialministerin: „Eine ehemalige Textilarbeiterin, Kriegswitwe, Gewerkschaftsfunktionärin, erprobte Parlamentarierin, jahrzehntelanges Mitglied des Sozialausschusses – eine Wienerin mit Charme, Witz und Schlagfertigkeit. Sie war die beste Lösung!“
Rehor selbst sah ihre Berufung nüchtern und pragmatisch: „Es ist wichtig und richtig, wenn Frauen auch in höchste Positionen vordringen. Dies entspricht nicht nur der Bevölkerungs- und Beschäftigungs-, sondern auch der Wählerstruktur.“
Ihre Regierungsarbeit richtete sie nach den Bedürfnissen der „kleinen Leute“ aus und setzte, wiewohl sie nur eine Legislaturperiode im Amt war, Meilensteine der Sozialpolitik. Mit dem 1968 erlassenen Arbeitsmarktförderungsgesetz schuf sie die Grundlage für eine aktive Arbeitsmarktpolitik, welche zahlreiche Arbeitsplätze sicherte und tausenden Arbeitern und Angestellten das Schicksal der Arbeitslosigkeit ersparte. In diesem Zusammenhang wurde bereits 1967 das Bildungshaus in Mödling errichtet, das als Schulungsinstitut für die Beamten der Arbeitsmarktverwaltung diente. Gegen den Widerstand der Opposition und auch aus den eigenen Reihen setzte Rehor ein Hausbesorgergesetz durch, das die wirtschaftliche Absicherung des Berufsstandes nachhaltig verbesserte. Weiters wurde die Kodifikation des Arbeitsrechts fortgesetzt, ein neues Lebensmittelgesetz erlassen und der 8. Dezember als Feiertag eingeführt.
Noch bevor die Schlagwörter Emanzipation und Feminismus zum politischen Programm geworden und deren Bedeutung ins allgemeine Bewusstsein gedrungen waren, sensibilisierte Rehor Politiker und Bevölkerung für Frauenthemen. Unter der Parole „Gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit!“ kämpfte sie für eine Angleichung der Gehälter von Mann und Frau. Im Wissen um das vielerorts notwendige Zweiteinkommen konnte unter ihrer Ägide und in Kooperation mit den Landesarbeitsämtern sowie der Wirtschaft die Anzahl der Teilzeitstellen als Voraussetzung für die Frau, Arbeit und Haushalt in Einklang zu bringen, erhöht werden. Nach der Novellierung des Mutterschutzgesetzes wurden der Karenzgeldanspruch um ein Viertel angehoben und die Mutterschutzfrist auf mindestens zwölf Wochen ausgedehnt. Der später unter der SPÖ-Ministerin Ingrid Leodolter eingeführte Mutter-Kind-Pass war in seinen Grundzügen bereits 1969 Thema einer Konferenz der Landessanitätsdirektoren.
Dass das Sozialbudget zwischen 1966 und 1970 von 9,7 auf 16 Milliarden Schilling anstieg, zeigte einerseits die Notwendigkeit nach weiteren Geldmitteln, andererseits aber auch die Beharrlichkeit, mit der Rehor ihre Forderungen durchzusetzen verstand. Während ihrer Amtszeit legten die Pensionen real um 22 % zu! Als das Wort Reform noch nicht als Synonym für Einsparung stand, sondern ein Signalwort für die Verbesserung aktueller Verhältnisse war, spiegelten 100 erlassene Sozialgesetze Rehors großen Reformwillen wider. Dies alles brachte ihr im Volk den durchaus wohlwollenden Spitznamen der „schwarzen Kommunistin“ ein. Innerparteilich zog sie sich den Unmut mancher Kritiker zu, die ihre Haltung gegenüber den Sozialisten als zu konziliant fanden. Nach außen entstand der Eindruck, dass ausgerechnet der Partei der sozial couragierten Frontfrau die Themenführerschaft in gesellschaftspolitischen Fragen abhanden gekommen war.
Mit der Wahlniederlage der ÖVP 1970 verlor Rehor nicht nur ihr Ministeramt, sie legte auch ihr Nationalratsmandat zurück. Allerdings bedeutete der Abschied von der Spitzenpolitik nicht, auch das soziale Engagement ruhen zu lassen. Sie widmete sich verstärkt der Tätigkeit als Bundesfrauenreferentin des ÖAAB. 1975 wurde sie ins Präsidium der ARGE für Rehabilitation gewählt, wo sie gemeinsam mit Dr. Michael Neider, später Sektionschef im Justizministerium, und Dr. Herbert Kristen, dem nachmaligen Leiter des Rehabilitationszentrums Weißer Hof, die für nahezu unlösbar gehaltene Aufgabe, 61 Behindertenverbände unter einem Dachverband zu organisieren, erfolgreich abschloss.
Ihre Erfolge fanden Ausdruck in höchsten Ehrungen. Bundespräsident Franz Jonas verlieh ihr Herbst 1969 als erste Frau das „Große Goldene Ehrenzeichen am Bande für Verdienste um die Republik Österreich“. Die Stadt Wien zeichnete sie ebenso mit dem Goldenen Ehrenzeichen aus wie der ÖGB für ihre 40-jährige Mitgliedschaft.
Am 28. Jänner 1987 starb Grete Rehor im 77. Lebensjahr in Wien. Man hatte sie rasch vergessen. Schon der mittleren Generation sagt der Name Rehor heute kaum mehr etwas, von der jüngeren ganz zu schweigen. Zur Frauenpolitik assoziiert man eher die SPÖ. Die Marke Johanna Dohnal etwa glänzt stärker als das Verdienst der konservativen Pionierin. Dennoch war es gerade das „rote“ Wien, das ihr ein sichtbares Andenken setzte, indem es 1996 die Parkanlage zwischen Parlament und Justizpalast nach ihr benannte. Einem ihrer großen sozialen Anliegen, der Behindertenarbeit, trägt der Grete-Rehor-Fonds Rechnung, aus dem gesundheitlich gehandicapte Jugendliche finanziell unterstützt werden.

Erschienen in "Wiener Zeitung", 27./28.1.2007