"Ebenso neu wie kühn"
Das schwere Leben der Emily Kempin-Spyri, Europas erster Juristin
Ende September 1888 müht sich ein Postdampfschiff der Cunard-Linie durch den Atlantik gegen Westen. An Bord europäische Auswanderer, die in der Neuen Welt ihr Glück suchen, das man ihnen in der Heimat verwehrt hat. Schon der Name des Zielhafens gilt als Garantie für die Erfüllung der Sehnsüchte: New York. Unter den Passagieren eine zierliche Frau von 35 Jahren, auf der Flucht vor der Borniertheit und Enge ihrer Schweizer Heimat. Im Jahr davor hatte sie an der Universität Zürich zum Doktor der Jurisprudenz promoviert. Ihr Ansuchen um Ausübung des Anwaltsberufs wurde abgeschmettert, eine im Frühjahr an der Universität begonnene Vorlesungsreihe vom Rat der Fakultät abgewürgt. In der "Zürcher Post", herausgegeben vom Journalisten und Politiker Theodor Curti, erregte ein Artikel über die amerikanische Juristin Belva Lockwood, die sich 1879 das Recht erkämpft hatte, als erste Frau am Obersten Gerichtshof der USA zugelassen zu werden, ihre Aufmerksamkeit. Der Entschluss der Dr. Emily Kempin-Spyri stand fest: In Manhattan liegt die Zukunft!
Spyri, welch ein Name in Zürich! Vater Johann Ludwig Spyri ist als Direktor des Statistischen Amtes der Nordost-Bahn und Mitglied des Zürcher Kantonsrates eine weit über die Stadt hinaus einflussreiche Persönlichkeit. Als Präsident der Rütlikommission und der "Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft", deren Zeitung er als Gründer und Chefredakteur auch führt, genießt er hohes Ansehen. Dass er ehemals Pfarrer war, verblasst im Glanz dieser Ämter. Siebenfacher Vater, früh verwitwet, seine Tochter Karolina führt ihm den Haushalt. Ein Patriarch, dessen Wort gehört wird.
Emily will nicht hören. Alles muss sie sich ertrotzen, selbst ihren Ehemann. Gegen den Widerstand des Vaters heiratet sie am 22. Juni 1875 den Pfarrer von Enge bei Zürich, Walter Kempin. Vater Spyri rückt keinen Rappen Mitgift heraus. Die Zeiten für das junge Paar werden hart. Viermal muss es umziehen, ehe es in einem alten Schulhaus zwischen See und Friedhof eine Bleibe findet. Zwei Töchter und einen Sohn hat Emily inzwischen geboren. Der Mann verschreibt sich Idealen, die der Zeit voraus sind und daher ohne Erfolg bleiben. Seine Forderung nach unentgeltlicher Krankenpflege, die er 1880 in Winterthur auf einer Versammlung der "Gemeinnützigen Gesellschaft" erhebt, wird belächelt. Dem 1882 von ihm ins Leben gerufenen "Centralverein des Rothen Kreuzes", der die Ausbildung von Pflegerinnen auch für Friedenszeiten vorsieht, bleibt der Erfolg versagt. Eine von ihm gegründete Zeitschrift leidet unter chronischem Abonnentenmangel. Als die ersten Gerüchte an die Öffentlichkeit dringen, er bereite seine Frau auf die Maturitätsprüfung vor, wird er als Pfarrer bloß noch geduldet.
Emily Kempin-Spyri ist 31 Jahre alt, als sie im Sommersemester 1884 an der Universität Zürich als erste Frau mit dem Jura-Studium beginnt. Verständnis erntet sie nur von ihrem Mann. Selbst ihre Tante, Johanna Spyri, die als Schriftstellerin einen eigenständigen Weg beschritten hat und mit ihrem Welterfolg "Heidi" längst schon aus dem Schatten ihres Gatten, dem Zürcher Stadtschreiber Johann Bernhard Spyri, getreten ist, meint, dass "der Hausstand der einzige würdige Wirkungskreis der Frau" sei. Doch die erste Generation der Akademikerinnen ist schon in Arbeit. Dr. Marie Heim-Vögtlin hatte 1874 als erste Schweizer Ärztin in Zürich ihre Praxis eröffnet, drei Jahre später tat es ihr Dr. Karoline Farner gleich. Aber wenigstens keine Anwältinnen, die zu ihrer Berufsausübung einen kühlen Kopf bräuchten, über den eine Frau schlicht und einfach nicht verfüge!
Walter Kempin, Gatte einer Studentin - eine Witzfigur im Gotteshaus! Des Pfarrers Existenz auf Bewährung wird durch das allgemeine Unverständnis der Zeit beendet. Vergessen sein aufopfernder Einsatz während der großen Typhusepidemie 1884, vergessen die Sommerlager, die er für bedürftige Kinder organisiert hat. Man drängt ihn zur Kündigung seiner Stellung. Er geht nach Remscheid in Deutschland, wo er als politischer Redakteur arbeitet. Es ist wenig Geld, das er seiner Familie in Zürich überweisen kann.
Eine Wohnungsstreitigkeit zwingt Kempin zurück nach Zürich. Am 24. November 1886 möchte Kempin-Spyri, Jurastudentin im sechsten Semester, ihren Gatten in dieser Angelegenheit vor dem Bezirksgericht Zürich vertreten. Sie wird mit der Begründung zurückgewiesen, dass für die Vertretung Dritter einzig und allein das Aktivbürgerrecht – unabhängig von der juristischen Qualifikation - von Bedeutung sei, und über dieses verfüge sie als Frau nicht. Die dagegen eingelegte Beschwerde wird am 29. Jänner 1887 vom Bundesgericht verworfen. Kempin-Spyris Argument, aus dem allgemeinen Gleichheitsgrundsatz, dem Artikel 4 der Bundesverfassung, die Gleichstellung der Geschlechter zu folgern, sei, so die Bundesrichter, "ebenso neu wie kühn". Der wachsame Theodor Curti hat diesen Fall verfolgt. Sowohl auf medialer als auch auf politischer Ebene setzt er sich für ein neues Anwaltsgesetz ein, das die Berechtigung für die Berufsausübung nicht ans Geschlecht, sondern an einen Befähigungsnachweis bindet. Das Gesetz wird für Dr. Kempin-Spyri, die den akademischen Titel als erste europäische Juristin seit dem 16. Juli 1887 führen darf, jedoch zu spät kommen.
Im Glanz des Morgenlichts das Riesenweib des Rechts. Die Freiheitsstatute - Fackel und Gesetzbuch in der Hand. 145 Franken pro Person kostete die Überfahrt, eingesetztes Risikokapital für einen Neuanfang. Voll Zuversicht gehen die Kempin-Spyris mit ihren drei Kindern in New York von Bord. Walter wird als Korrespondent für den "Philadelphia Democrat" arbeiten. Für Emily hat sich ein Kontakt zur "Arbitration Society", einer gemeinnützigen Einrichtung zur Besserstellung von Mittellosen, ergeben. Im Leitungskomitee sitzen Frauen aus bester Gesellschaft: unter ihnen Helen Gould, Tochter des Eisenbahnkönigs Jay Gould, Mrs. Munn, die Gattin eines Modearztes, Mrs. Hewitt, Gattin des ehemaligen Bürgermeisters von New York. Dr. Kempin-Spyri soll für die Klienten der Society Rechtsangelegenheiten bearbeiten.
Die Juristin aus Europa muss erkennen, dass auch in der Neuen Welt die Karriereleiter nur mühsam zu erklimmen ist. Bis Jänner 1889 muss sie warten, um an der "University of the City of New York" überhaupt als Hörerin zugelassen zu werden. Dabei war sie doch nach New York gekommen, um hier als Anwältin oder Dozentin arbeiten zu können! Zur Verwirklichung ihres Wunsches nach einer Lehrtätigkeit nutzt die kluge Schweizerin die finanzstarke "Arbitration Society" als Plattform.
Der zunächst vagen Idee von Rechtskursen für Frauen gibt sie mit ihrem Konzept die Form. Am 14. Juni 1890 wird die "Woman's Law Education Society" gegründet und unter die Patronanz der Universität gestellt. 25.000 Dollar Anfangskapital reichen bei weitem für Miete und das Honorar für den ersten Kurs. Dreizehn Frauen bekommen nach bestandenem Examen zu Ende des Wintersemesters 1890/91 ihre Zertifikate überreicht. Die Abschlussfeier für die ersten Absolventinnen nützt man zur Promotionveranstaltung. Pressevertreter einflussreicher Zeitungen sind anwesend, Reden werden gehalten, Fotos geschossen, und im Zentrum der Aufmerksamkeit steht Dr. Emily Kempin-Spyri. Es zeichnet sich ab, dass das Jahr 1891/92 noch arbeitsreicher werden würde. Die Universität beabsichtigt, ihre Vorlesungen der großen Nachfrage wegen doppelt anzubieten. Nach nicht einmal drei Jahren in den Vereinigten Staaten schien sie es geschafft zu haben. Doch nur sie.
Ihr Ehemann Walter war bereits 1889 mit zwei Kindern nach Europa zurückgekehrt. Die Misserfolge vor der Emigration hatten ihn zu sehr geschwächt für den Beginn im neuen Land, der raue Wind Amerikas hatte ihn geknickt. Zurück nach Europa, ehe er gänzlich bricht! In Zürich hat er ein kleines Anwaltsbüro eröffnet. Er führt keinen akademischen Titel (den wird er erst im Alter von 65 Jahren erlangen), aber der Umstand, dass er ein Mann ist, gestattet ihm den Versuch, seiner Gattin nachzueifern. Der Erfolg bleibt bescheiden. Im Sommer 1891 benachrichtigt er Emily in New York, dass Sohn Robert an einem heimtückischen Drüsenfieber erkrankt sei. Die Mutter am anderen Ende des Atlantiks, eben auf einem Wellenberg des Erfolgs, bricht mit ihrer jüngsten Tochter Agnes überstürzt auf. Was eine Unterbrechung für einen Sommer sein sollte, wird ein Abschied von New York. Auf immer.
Abermals ein Neuanfang. Gemeinsam mit ihrem Mann eröffnet Emily in der Zürcher Bahnhofstraße ein Rechtsbüro. Im Dezember 1891 wird sie, endlich, an der Universität Zürich als Privatdozentin für römisches, englisches und amerikanisches Recht zugelassen. Am 4. März 1892 hält sie ihre Antrittsvorlesung über "Die modernen Trusts". Im selben Jahr erscheint in Leipzig ihr erstes Buch: "Die Stellung der Frau nach den zur Zeit gültigen Gesetzesbestimmungen für das Deutsche Reich". Ihr Ruf in Deutschland ist ein guter, selbst die Kaiserin interessiert sich für Europas erste Juristin. Sie spricht in Berlin, wo es Helene Lange gelungen ist, ein Mädchengymnasium durchzusetzen, wenig später in Leipzig, wo ein solches kurz vor der Eröffnung steht. Es folgen Auftritte in München und Nürnberg, schließlich in Dresden, wo auf ihre Anregung hin "Der Allgemeine Deutsche Frauenverein" ein Rechtsschutzbüro für Frauen und Mädchen gründet. Noch ist sie ein Star der Frauenbewegung. Langsam gewinnt sie auch Anerkennung im eigenen Land, spricht 1894 am Juristentag in Basel, wenig später am Kongress der "Internationalen Kriminalistischen Vereinigung" in Bern. Zwei weitere Bücher folgen, in Zeitungen und Zeitschriften ist sie eine gefragte Autorin. Was sie von Amerika erträumt hat, scheint nun in Europa wahr zu werden.
Es ist nur ein Schein. Die Vorträge und die Privatdozentur bringen wenig ein, die wirtschaftlichen Probleme sind allgegenwärtig, die Bürogemeinschaft mit Walter zerbricht, später auch die Ehe. Theodor Curti, ihr langjähriger Verbündeter, wird in St. Gallen Regierungsrat, die Leere, die er in Zürich hinterlässt, schmerzt. Schließlich lehnt die Universität ihre Bewerbung um einen frei gewordenen Lehrstuhl ab: "Man erachte die Qualifikation der Frau Dr. Kempin für nicht nachgewiesen." Ein junger Jurist wird ihr vorgezogen.
Ein letztes Aufbäumen. Für das Wintersemester 1895/96 lässt sie sich beurlauben, übersiedelt nach Berlin und eröffnet an der noblen Adresse Unter den Linden 40 ein Rechtsbüro. 1896 arbeitet sie an der Neufassung des Familienrechts für das Deutsche Bürgerliche Gesetzbuch mit, im selben Jahr reicht sie an der Universität Zürich ihr Entlassungsgesuch ein. Zwei ihrer Kinder haben sie nach Berlin begleitet. Für Sohn Robert, der bei einem Buchdrucker in Ausbildung steht, ist das Lehrgeld aufzubringen, die teure Miete für die Büroräumlichkeiten ist zu verdienen. Freunde verhelfen ihr zu Vorlesungen an der Lessing-Hochschule und an der Humboldt-Akademie. Sie fühlt, dass ihre Kräfte schwinden, im Herbst 1896 sucht sie einen Arzt auf. Im Unterleib wird ein Gewächs festgestellt.
Am Evangelisch-socialen Kongress in Leipzig tritt sie im Sommer 1897 letztmals öffentlich auf. Ihre Ausführungen zu aktuellen Frauenfragen, die sie aus Sicht der Juristin erläutert, sind den Frauenrechtlerinnen nicht radikal genug. Aus den eigenen Reihen erwachsen ihr schärfste Feindinnen, schließlich wird sie als eine "Gegnerin der Frauensache" bezeichnet. Sie spürt die Kälte der Einsamkeit. Sohn Robert studiert nach der Kündigung durch den Lehrherrn mittlerweile in München Musik, ihre älteste Tochter Gertrud ist mir ihrem Geliebten, den sie ihrer Mutter ausgespannt hat, nach England durchgebrannt. Nach einem Nervenzusammenbruch wird Kempin-Spyri im Herbst 1897 in die Nervenklinik Lankwitz eingeliefert. Abgesehen von zwei Ausbrüchen, wird sie nie mehr ein Leben außerhalb der Klinikmauern führen. 1898 verabschiedet der Zürcher Kantonsrat ein Gesetz, das es Frauen erlaubt, den Anwaltsberuf auszuüben. Im selben Jahr wird Europas erste Juristin entmündigt.
Wenig später erfolgt ihre Verlegung in die Irrenanstalt von Basel, die "Friedmatt". Die größer werdende Geschwulst im Bauch, so sagt sie ihrem Arzt, sei ein Mann. Walter heiße er, Walter Scott, der schottische Schriftsteller. Dass er seit fast siebzig Jahren tot sei, wisse sie. Er werde eben neu geboren. Die zeitgenössische Psychiatrie nennt es primäre Verrücktheit oder Psychose. Am 12. oder 13. April 1901 stirbt Dr. Emily Kempin-Spyri im Alter von 48 Jahren an Eierstockkrebs.
Erschienen in „Wiener Zeitung“, 16./17.11.2001