Verbrannte Haut, gelocktes Haar

Mit glühenden Zangen brachte Karl Ludwig Nessler die erste Dauerwelle in Form

In einem der noblen Coiffeursalons im Paris des ausgehenden 19. Jahrhunderts wagte ein junger Friseur nach Dienstschluss ein abenteuerliches Experiment an einer Arbeitskollegin. Auf welch Prozedur sie sich dabei eingelassen hatte, ahnte sie bei ihrer Zusage wahrscheinlich nicht. Der Friseur band ihr mit einem Faden dicht an der Kopfhaut drei Haarsträhnen ab und benetzte diese mit einer Sulze, deren Zusammensetzung sein Geheimnis blieb. Danach wickelte er die Haarsträhnen spiralförmig um Metallstäbe, die er mit einer glühenden Zange erhitzte. Dieses Werkzeug, das eher zu einer Schmiede denn zu einem Friseursalon passte, war von hohem Gewicht, es pro Metallstab eine Stunde lang zu halten, wie es für das Experiment notwendig war, erforderte starke Arme. Beim dritten Wickel dürften den jungen Mann die Kräfte verlassen haben – das Eisen kam der Kopfhaut zu nah, das Modell schrie vor Schmerz auf und fuhr aus seinem Stuhl hoch. Das Experiment musste abgebrochen werden, - erfolglos war es nicht.
Nachdem das Haar gewaschen und die zur Kruste gehärtete Sulze abgekratzt war, zeigte sich nach dem Ausfrisieren folgendes Ergebnis: Das Haar eines Kringels wurde wieder glatt – es war zu kurz der Hitze ausgesetzt gewesen. Ein zweiter Kringel war abgefallen – ganz offensichtlich hatte er zu heiß bekommen. Der dritte Kringel jedoch blieb auch nach mehrmaligem Waschen wellig. Es war die inoffizielle Geburtsstunde der Dauerwelle.
Der junge Mann hieß Charles Nessler, war als Karl Ludwig Nessler am 2. Mai 1872 im Schwarzwälder Todtnau als Sohn eines Schusters geboren worden und hatte sich nach einer längeren Wanderschaft durch Italien und die Schweiz schließlich in Paris als Friseur niedergelassen. Seine mutige Assistentin war die um sieben Jahre jüngere aus Ulm zugezogene Katharina „Yvonne“ Laible, die dem Experimentator nicht nur für weitere Testreihen zur Verfügung, sondern ab 1901 auch als Ehefrau zur Seite stand.
Paris galt damals als das Zentrum der Coiffeurkunst. Die nach Marcel Grateau benannte Marcel-Welle – eine Ondulation, die jedoch meist nicht länger als einen Tag hielt – war in der wohlhabenden Damenwelt der letzte Schrei und hatte nicht zuletzt dafür gesorgt, dass die Anzahl der Friseursalons nach der großen Weltausstellung 1889 binnen zweier Jahrzehnte von zehn auf dreihundert hinaufschnellte. Das Gewerbe war entsprechend der betuchten Kundschaft von Noblesse geprägt, die Friseure leisteten ihre Dienste im Gehrock, leitende Angestellte gar in Frack und Zylinder.
Der umtriebige Nessler zog bald nach London, wo er einen kleinen Salon anmietete und im Vertrauen auf eine höhere Werbewirksamkeit seinen deutschen Nachnamen in einen französisch klingenden umwandelte: Von nun an nannte er sich bis zu seinem Lebensende Charles Nestlé. In nächtelangen Versuchen verbesserte er die Formung von Dauerwellen, so dass er am 8. Oktober 1906 zu einer Demonstration seiner Erfindung einlud. Was Nessler an diesem Abend in der Oxford Street 245, in den Räumlichkeiten oberhalb einer neu errichteten U-Bahnstation, vor etwa achtzig handverlesenen Friseuren zeigte, schien unglaublich: Das behandelte Haar überstand mehrere Waschungen, ohne seine Wellung zu verlieren. Nessler hatte herausgefunden, dass durch die Öffnung des Zellgewebes und eine spezielle Präparierung das Haar dauerhaft gewellt werden konnte. Im Vergleich zur Marcel-Welle, deren Pracht schon durch zu hohe Luftfeuchtigkeit bedroht wurde, war das ein immenser Fortschritt. Die Kollegenschaft sah das naturgemäß anders: Warum sollte man das Haar der Kundschaft zu einer dauerhaften Welle formen, wo doch das bisherige Verfahren aufgrund der geringen Haltbarkeit eine viel höhere Kundenfrequenz und somit auch einen höheren monetären Umsatz versprach?
Für Nessler bedeutete die Ablehnung seitens der Kollegen nur eine vorübergehende Enttäuschung, an der Durchsetzung seiner Erfindung zweifelte er nie. Ein wichtiger Fortschritt war die elektrisch gewärmte Heiztube, die die mittels Gasflammen vorgeheizten Heizzangen ersetzte. Bald wurden Apparate eingesetzt, die ein Aufstecken der Heiztuben ermöglichten, womit das anstrengende Halten derselben wegfiel. Die Apparate wiederum wurden schnell weiterentwickelt, statt zwei Heiztuben waren es bald 16, wodurch Bearbeitungszeit wie Kosten sanken. Schließlich wurde die Dauerwellprozedur zunehmend schmerzfrei, durch den Einsatz von Filz-, später Vulcanfiberscheiben, die als Schutz zwischen Kopfhaut und Wickler gelegt wurden, konnten Blasenbildungen und Verbrennungen, die die Kundinnen lange Zeit in Kauf nehmen mussten, weitgehend vermieden werden.
Die internationale Verbreitung der Dauerwelle allerdings setzte nur zögernd ein. Sowohl in Deutschland als auch in Österreich, wo am 6. Dezember 1909 im Genossenschaftshaus der Friseure in der Mollardgasse in Wien das Nestlésche Verfahren vorgestellt wurde, konnten nur Teilerfolge erzielt werden. Angeworbene Vertreter gaben mangels Interesse seitens der Friseure bald wieder auf.
In London hingegen eröffnete Nessler 1911 einen feinen Salon in der South Molton Street, das so genannte „Haus der Dauerwelle“ war bestens frequentiert, zusätzlich florierte der Apparatebau, der Erfolg schien unaufhaltsam. Drei Jahre später jedoch machte der Ausbruch des Ersten Weltkriegs den mittlerweile angesehenen Friseur zum feindlichen Ausländer, der in ein Internierungslager auf der Insel Man gesteckt wurde, das „Haus der Dauerwelle“ wurde vom Staat beschlagnahmt.
Nach wenigen Wochen gelang Nessler die Flucht aus dem Lager Knockatoe, im Jänner 1915 reiste er mit einem Reisepass, der ihn als den Biologen Paul Miller auswies, in die USA ein. Die Annahme, hier auf einen riesigen Absatzmarkt für seine Erfindung stoßen, wurde zunächst bitter enttäuscht. Hunderte Nachbauten seiner Apparate waren im Umlauf, Nessler musste erkennen, dass sein 1908 angemeldetes Patent nur unzureichenden Schutz genoss. Auch wenn die Eröffnung eines Salons in New York wenig zufrieden stellend verlief (von 62 Damen blieb bloß eine einzige, die sich eine Dauerwelle anfertigen ließ), kam er durch die hohe Qualität seiner Arbeit und eine konsequente Hochpreispolitik schnell zu Erfolg. Sukzessive vergrößerte sich Nesslers Unternehmen, bald besaß er in New York drei Salons, den berühmtesten in der 5th Avenue, in dessen Auslage ein Wasserbecken aufgestellt war, in dem eine dauergewellte Haarsträhne als Beweis für die Haltbarkeit schwamm. Er weitete seine Geschäftstätigkeit auf Chicago, Philadelphia, Palm-Beach und Detroit aus. 500 Angestellte waren nicht nur in den Salons, sondern auch im chemisch-pharmazeutischen Bereich tätig, wo verschiedene Cremes, Puder, Lippenstifte, Gesichtswässer und Haarpflegemittel hergestellt wurden. Außerdem wurden elektrisch betriebene Heimgeräte zu 15 Dollar hergestellt, von denen allein im Herbst 1922 30.000 Stück abgesetzt worden sein sollen. 1928 – mitten in der Blütezeit – verkaufte Nessler sein Unternehmen für 1,6 Millionen Dollar an die Nestlé-Le Mur-Gesellschaft.
Doch der Erfolgsmensch Nessler war plötzlich von der Butterseite des Schicksals gefallen. Am „Schwarzen Freitag“ 1929 verlor er einen großen Teil seines in Kupferaktien angelegten Vermögens, noch im selben Jahr brannte sein Haus in New York/Palisades ab, wobei wissenschaftliche Aufzeichnungen, Lizenzverträge und Wertpapiere vernichtet wurden. 1932 verlangte das Finanzamt eine Steuernachzahlung von 317.000 Dollar, 1935 starb seine Frau an den Folgen einer Gehirnblutung.
Nessler brauchte dringend Geld. Sein 1934 erschienenes Buch „Our vanishing hair“ („Unser schwindendes Haar“) allerdings bescherte ihm nicht den gewünschten Tantiemeneingang. Mit dem so genannten „ChaNess“-Apparat, der für die allgemeine Hautpflege, die Bekämpfung der Kahlköpfigkeit und die Förderung des Stoffwechsels eingesetzt werden sollte, wollte Nessler nochmals an große Zeiten anschließen. Vergebens – die von Nessler genannten Heilungen von Gicht, Wassersucht, Rheuma und anderen schweren Krankheiten nach wenigen Anwendungen seines Apparats klangen unglaubwürdig, die von ihm erhoffte Massenproduktion blieb aus. Nach dem Krieg tauchte sein Name nur noch einmal in der Presse auf, als er 1949 einen Ehrenpreis einer amerikanischen Frauenorganisation erhielt. Auch seine Heimatstadt Todtnau, die er nach dem Ersten Weltkrieg über Jahre hinweg mit Sachspenden und regelmäßigen Geldüberweisungen unterstützt hatte, schien ihn vergessen zu haben. Vereinsamt starb Nessler am 22. Jänner 1951 in Harrington Park, New Jersey. Seit 1996 erinnert ein nach ihm benannter Preis, der alle drei Jahre einem deutschen Friseur für herausragende Leistungen verliehen wird, an den Erfinder der Dauerwelle.

Erschienen in „Wiener Zeitung“, 7.10.2006