Der Vater der Knautschzone
Flankenschutz, Sicherheitslenksäule, Überrollbügel und das Pralltopflenkrad sind aus unserem Automobilalltag nicht mehr wegzudenken. Zu verdanken ist das alles dem Sicherheitspionier Béla Barényi, der am 1. März 1907 in Hirtenberg geboren wurde.
Unter der nüchternen Baureihenbezeichnung W111 stellte Mercedes 1959 jene Modelle vor, die wegen der stilisierten Kofferraumlängskanten unter Liebhabern bald schon die Bezeichnung „Heckflosse“ erhielten. Das Spitzenmodell „220“ war nun gewiss ein solid gefertigter und luxuriös ausgeführter Oberklassewagen, den Platz in der Automobilgeschichte jedoch wiesen ihm weder Design noch Motorleistung, sondern die Tatsache zu, das erste Auto mit Knautschzone und sicherer Fahrgastzelle gewesen zu sein. Was heute ein selbstverständliches Prinzip im Automobilbau darstellt, war vor knapp fünfzig Jahren eine Revolutionierung der “passiven Sicherheit“. Mit diesem Begriff wusste man zu einer Zeit, als die Automobilindustrie ihre Strategien nach Leistbarkeit (für den anwachsenden Mittelstand des Wirtschaftswunders) und Repräsentation (für die Wohlhabenden) ausgerichtet hatte, wenig anzufangen. Lange wurde angenommen, dass eine harte, kaum verformbare Gesamtkarosserie den besten Insassenschutz böte. Darüber hinaus war die Autobranche von einem gewissen Fatalismus geprägt und hielt noch bis in die Fünfzigerjahre Autounfälle für schlicht nicht überlebbar. Nicht selten sind es Einzelpersonen, die gegen solche Denkmuster Position beziehen und sinnvolle Lösungsstrategien auf den Tisch legen, deren Realisierung sie oft dem Zusammenspiel aus Langmut, Glück und der Potenz eines großen Unternehmens verdanken. Von allem ein bisschen wohl war nötig, damit Béla Barényi, den man später den „Vater der Knautschzone“ nannte, seine zahlreichen Ideen in die Tat umsetzen konnte.
Am 1. März 1907 in der niederösterreichischen Gemeinde Hirtenberg geboren, wuchs Barényi gemeinsam mit vier Geschwistern in wohlhabenden Verhältnissen auf. Sein Vater war Professor für Naturwissenschaften an der k.u.k. Militärschule in Fischau, seine Mutter entstammte einer angesehenen Industriellenfamilie. Entsprechend seinem früh entwickelten technischen Interesse besuchte Barényi die private Lehranstalt für Maschinenbau und Elektronik in der Siebenbrunnengasse in Wien. Er beendete das Studium mit exzellentem Erfolg und legte 1925 seine Abschlussarbeit mit dem Titel „Kommender Volkswagen mit optimaler Triebwerkskombination“ vor: Ein luftgekühlter Vierzylinder-Boxermotor, wobei der Motorblock hinter, das Getriebe vor und das Differential auf der hinteren Antriebsachse liegen. Dazu entwarf der 18-jährige Barényi eine stromlinienförmige Karosserie auf Zentralrahmen in Pontonbauweise. Jeder Punkt für sich war seiner Zeit weit voraus und ließ in dem jungen Ingenieur die Hoffnung keimen, diese Konzeption würde die Direktionen der Autofirmen begeistern. Eine Patentierung seiner Abschlussarbeit hatte Barényi - nicht ahnend, wie wegweisend sie war, - unterlassen. Bei Steyr, Austro-Fiat, Tatra und dem neu eröffneten Büro von Ferdinand Porsche in Stuttgart erntete er zwar durchwegs große Anerkennung, gleichzeitig wurde ihm aber beschieden, dass das Geld für die Umsetzung seiner Pläne fehle. Statt kühne Zukunftspläne zu forcieren, kämpfte die Automobilindustrie ums Überleben. Zehntausende Entlassene waren ein sichtbares Zeichen der wirtschaftlichen Rezession.
Dass die Zeiten schlecht waren, erfuhr Barényi am eigenen Leib, Dienstverhältnisse wurden in kurzen Intervallen von Arbeitslosigkeit unterbrochen. Schließlich aber schien sich durch eine fruchtbare Tätigkeit als Konstrukteur bei Adler/Horch und einem Engagement bei Daimler-Benz ab 1939 das Blatt doch zum Guten zu wenden. Stand man in Sindelfingen allgemein unter dem Eindruck der siegreichen „Silberpfeile“, so arbeitete Barényi unbeirrt an seinen Sicherheitsfragen. Eine 100 Quadratmeter große Baracke wurde zur Keimzelle der passiven Sicherheit. Doch durch die nahezu vollständige Zerstörung der Daimler-Benz-Werke verlor Barényi zu Endes des Krieges vorübergehend seine Stellung.
Nach dem Wiedereintritt 1948 fand seine Karriere als Sicherheitspionier eine höchst erfolgreiche Fortsetzung. Mit seiner großzügigen, amerikanischen Dimensionen angelehnten Studie „Terracruiser“, dessen 6-sitziger Innenraum mit zentralem Fahrersitz sich in einer strukturell sehr festen Fahrgastzelle zwischen zwei leicht verformbaren Crashzellen befindet, stellte Barényi die Urform der festen Sicherheitszelle mit Knautschzone vor. Die Idee dahinter war simpel: Die bei einem Zusammenprall auftretende Energie wird durch Verformung abgebaut.
Am 23. Jänner 1951 meldete Barényi diese Erfindung zum Patent an. Seither ist das Patent Nummer 854157 in der gesamten Automobilindustrie Grundlage der passiven Sicherheit von Fahrzeugen. Nach und nach nahmen andere PKW-Hersteller diese Idee auf und entdeckten die Insassensicherheit als zugkräftiges Marketingargument. Am offensivsten agierten diesbezüglich wohl die schwedischen Firmen Saab und Volvo. BMW, der Pionier der Verbundglasscheibe, baute erstmals 1956 eine Scheibenwaschanlage an und stattete 1968 als erster deutscher Autohersteller seine Spitzenmodelle serienmäßig mit Kopfstützen aus. Auch Audi hatte vor seinen „Vorsprung durch Technik“ die „Sicherheit als Prinzip“ gesetzt.
Als rundum Motorleistung, Hubraumgrößen und Höchstgeschwindigkeit an Bedeutung gewannen, tüftelte Barényi als Leiter der „PKW-Vorentwicklung“ bei Daimler-Benz am DVA („das vernünftige Auto“). Dieses sah er zwischen dem PS-strotzenden, Benzin fressenden, am Status orientierten, aber nicht den eigentlichen Anforderungen eines sicheren, bequemen, angemessen motorisierten Transportmittels angepassten HEO („Heißer Ofen“) und dem amerikanischen, sicherheitsfundamentalistischen, realitätsfernen ESV („Experimental Safety Vehicle“) angesiedelt. Es zeichnete sich durch hohe Sicherheit, ökologisch optimale Antriebssysteme, den Verzicht auf aggressive Leistung und hohe Reparaturfreundlichkeit aus. Als Autofirmen durch Beschleunigungswerte und PS-Zahlen eine emotionale Bindung der Kundschaft herbeizuführen versuchten, appellierte Barényi an den kühlen Verstand und plädierte für ein vernünftiges Auto. Mit wenigen Mitstreitern wie Hugh Dehaven und Ralph Nader, der als junger Rechtsanwalt Mitte der Sechzigerjahre die ersten Sicherheitsbestimmungen in den USA durchgesetzt hatte und 2000 als Kandidat der amerikanischen „Grünen“ bei den Präsidentschaftswahlen angetreten ist, schien Barényi wie ein Rufer in der Wüste.
Es war wohl eine vor allem für den Konsumenten glückliche Fügung, dass Barényi bei einem angesehenem Hersteller von Oberklasse- und Luxuswagen unter Vertrag stand, der den Zuwachs an Sicherheit als innovative Spitzenleistung verkaufen und diese mit den emotionalen Anteilen wie Design, Imagepotenzial und Fahrleistungen hervorragend kombinieren konnte. Mochte sich einst der allgemeine Geschmack an schmalen Lenkradkränzen, deren Speichen zu einem kleinen, oftmals spitzig geformten Zentrum zusammenliefen, orientiert haben, so wäre ein von einem Kleinwagenhersteller entworfenes Lenkrad mit Pralltopf möglicherweise als hausbackener Designfehltritt verachtet worden. Stattet eine Firma wie Mercedes seine Modelle damit aus, jubelt die Motorpresse über eine wegweisende sicherheitstechnische Neuentwicklung. Versenkte Scheibenwischer, die bei Unfällen mit Fußgängern deren Verletzungsrisiko mindern, Flankenschutz, Überrollbügel und eine Sicherheitslenksäule finden sich unter den zahlreichen Erfindungen des Daimler-Benz-Ingenieurs.
Besonders letztere hatte seit deren Einführung in den Sechzigerjahren unzählige Menschen vor dem Tod bewahrt. Waren die starren Lenksäulen, die sich bei einem Aufprall wie Spieße in den Innenraum bohrten, gefürchtete Verletzungsquellen, so wurde dank Barényis, in ihren Grundzügen erstmals in seiner Abschlussarbeit 1925 dargelegten Erfindung die Lenksäule durch einen ungeführten Deformationskörper geknickt und am gefährlichen Aufbäumen gehindert. Sie war damit der amerikanischen Teleskoplenksäule, die ihre Wirkung nur bei einem ganz bestimmten Aufprallwinkel voll entfalten konnte, weit überlegen. Barényis letztes Projekt waren die Vorbereitungsarbeiten für den „190“, den ersten „kleinen“ Mercedes in der Firmengeschichte. 2500 Patente nannte Barényi sein Eigen. Viele seiner Erfindungen sind heute integraler Bestandteil des Automobilbaus und fanden Eingang in die Gesetzgebung.
Die Geschichte von Béla Barényi wäre unvollständig, würde man nicht jenen 1951 begonnen Prozess gegen zwei Journalisten erwähnen, die ihm in ihren Publikationen über das Werk Porsches in Bezug auf die Entwicklung des VW „Käfer“ Hochstapelei vorwarfen. Der Prozess, der Barényi zuwider war und den er, wie er immer beteuerte, nur der Wiederherstellung seiner Ehre wegen geführt hatte, endete nach vierjähriger Verhandlungsdauer mit einem Paukenschlag: Das Patentgericht in Mannheim bestätigte Barényi die geistige Urheberschaft am VW „Käfer“. Die in seiner Abschlussarbeit 1925 veranschaulichten Überlegungen wiesen alle wesentlichen Merkmale des Wolfsburger Verkaufsschlagers auf. Das Medienecho war gewaltig, selbst aus den USA war es zu vernehmen.
Dem nach dem gewonnen Prozess einsetzenden Rummel um seine Person stand Barényi reserviert gegenüber. Zahlreiche der nun von vielen Seiten angetragenen Ehrungen lehnte er ab. Bloß die Rudolf-Diesel-Medaille in Gold (1967) und den Aachener und Münchener Preis für Technik und angewandte Naturwissenschaften (1981) als höchstmögliche Auszeichnung, die Deutschland an einen Techniker vergibt, nahm er an. 1989 verlieh ihm der österreichische Bundespräsident den Professorentitel, 1994 wurde er in Detroit in die „Automotive Hall of Fame“ aufgenommen.
Das Geheimnis, warum er nicht schon früher seine Urheberrechte am „Käfer“ geltend gemacht und erst auf Schmähungen zweier Journalisten reagiert hatte, nahm Barényi mit ins Grab. 1984 meinte er in einem Interview mit der österreichischen Zeitschrift WIENER: „Das ist doch alles schon so lange her. Reden wir lieber über den versenkbaren Scheibenwischer bei der Mercedes-S-Klasse. Den zu entwickeln war wirklich interessant.“
Am 30. Mai 1997 starb Béla Barényi in Böblingen. So revolutionär wie einst die Knautschzone waren später das Anti-Blockier-System, das Elektronische Stabilitätsprogramm, der Bremsassistent oder der Airbag. Es ist Barényis großes Verdienst, dass die passive Sicherheit nicht weiter als Schmuddelkind des Autobaus behandelt wurde, sondern wertvolle, mittlerweile von der Elektronik optimierte Fortschritte gemacht hat.
Erschienen in „Wiener Zeitung“, 24.2.2007